Roman, Paul Zsolnay Verlag, 1930
Wie alt ist Torberg, als sein Roman erscheint? In welcher Sportart wird der Autor tschechoslowakischer Meister? Warum sind Schülerromane Kriegsbüchern sehr verwandt?
Als sein Roman „Der Schüler Gerber hat absolviert“ (so der Titel der Erstausgabe) 1930 im Wiener Paul Zsolnay Verlag auf Vermittlung von Max Brod erscheint, ist Friedrich Torberg erst 21 Jahre alt. Es ist nicht seine erste Veröffentlichung – im Jahr zuvor wird sein Lyrikband „Der ewige Refrain“ verlegt, bereits seit dem Frühjahr 1928 druckt die deutschsprachiger Tageszeitung seiner Heimatstadt, das „Prager Tagblatt“, in regelmäßigen Abständen Gedichte von ihm ab.
Für die Tageszeitung verfasst Torberg seit 1927 zudem Theaterkritiken (und arbeitet dabei direkt Max Brod zu, der das Kulturressort leitet) und ist als Sportreporter tätig – Torberg selbst ist ein talentierter Wasserballer und wird mit seinem Verein Hagibor Prag 1928 tschechoslowakischer Meister. Die beiden Tore zum 2:0 Erfolg im Endspiel wirft: Friedrich Torberg.
Kein Wunder, dass die Schule unter so zeitintensiven Tätigkeiten leidet. 1927 fällt Torberg durch die Reifeprüfung, die er erst beim zweiten Versuch im folgenden Jahr besteht. „Der Schüler Gerber hat absolviert“ trägt also autobiographische Züge, wird sicher aber auch von Berichten über Schülerselbstmorde angeregt, die zahlreich in den großen Tageszeitungen der deutschsprachigen Presse erscheinen.
Kurt Gerber ist 19 Jahre alt, Gymnasiast und steht im letzten Jahr vor der Reifeprüfung. Er ist intelligent, aber auch faul.
Am ersten Schultag erfährt Kurts Klasse, dass sie einen neuen Klassenvorstand erhalten: Arthur Kupfer. Der Professor wird von allen Schülern gefürchtet, weil er sehr streng ist, und „Gott Kupfer“ genannt. Er unterrichtet die Klasse in Mathematik und Darstellender Geometrie. Vor allen Dingen die Mathematik ist Kurts schulische Schwäche.
Kurts Vater, der herzkrank ist, und einige Professoren raten Kurt, die Schule zu wechseln, doch Kurt will sich nicht unterkriegen lassen.
Die Tyrannei Kupfers beginnt. Zudem machen Kurt die Krankheit seines Vaters, eine unerwiderte Liebe und der unerwartete Tod eines Mitschülers zu schaffen. Zwar verbessern sich Kurts schulische Leistungen, nachdem er Nachhilfestunden nimmt, bei der Reifeprüfung fällt er aber in Mathematik durch, erbringt in den anderen Fächern aber passable Leistungen.
Während Kurt die Prüfungsergebnisse abwartet, kommen ihm immer stärker werdende Zweifel, ob er die Reifeprüfung bestanden hat. Er springt aus dem Fenster.
Eine Zeitungsnotiz schließt den Roman ab. Sie berichtet über den Freitod des Schülers und stellt die Sinnlosigkeit dieser Tat heraus: „Der Schüler Gerber“ hätte die Reifeprüfung bestanden.
„Schulbücher sind den Kriegsbüchern sehr verwandt. Beide sind: Abrechnung mit dem Gewesenen, das leider so selten gehaltene Versprechen eines Fluchs: Wenn ich hier mal rauskomme …! Beide Gattungen setzen viel voraus und wirken am meisten auf jene, die es mitgemacht haben“, schreibt Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym Peter Panter in der „Weltbühne“ (Ausgabe vom 22. April 1930). Er hatte „Der Schüler Gerber hat absolviert“ „Auf dem Nachttisch“ liegen und ist begeistert: „Seit langen Jahren habe ich kein Buch in der Hand gehabt, in dem etwas, was ich das ‚Schulgefühl‘ nennen möchte, so einprägsam ausgedrückt ist wie hier. Da ist eine Periode, in der sich der Schüler Gerber fallen läßt – ich habe das, als ich auf der Schule saß, einmal genau, bis in die letzte Einzelheit genau so empfunden … und sicherlich viele andere neben mir und um mich auch. Das ist ein lebendiges Buch.“
Da schreibt mir Tucholsky aus der Seele. Er hebt desweiteren einen Punkt in seiner Besprechung hervor, den ich benfalls nachempfinden kann, da ich während meiner Oberstufenzeit vor allen Dingen mit einem Lehrer nicht klar kam: „Da ist als Glanzpunkt und Hauptstück ein Lehrer, der heißt Kupfer, genannt ‚Gott Kupfer‘. Er kann alles, weiß alles, merkt alles, sieht alles … Der Kerl ist großartig gesehen, mit einem zischenden Haß, der durch die Seiten brennt – nichts macht ja hellsichtiger als solcher Haß. Gott Kupfer ist weit mehr als ein pittoresker Einzelfall: er ist ein echtes Sinnbild.“
Nicht jeder Kritiker sieht das so positiv wie Kurt Tucholsky. Jochen Maaß urteilt am 17. August 1930 in der „Vossischen Zeitung“:
„Die Fragen der Erziehung und der Schule werden immer Fragen bleiben, jede Zeit mit ihren neuen Seelenströmungen, Erkenntnissen und Notwendigkeiten wird sie auf ihre Art zu lösen haben, und also wird ein Schulroman stets aktuelles Interesse haben, sofern er im eigentlichen Wesen einer Zeit wurzelt und aus ihrem Geiste heraus kritisch oder programmatisch die Situation der Schule darstellt. Friedrich Torbergs Roman „Der Schüler Gerber hat absolviert“ (Paul Zsolnay Verlag) darf dies Charakteristikum der Aktualität in einer Beziehung für sich beanspruchen: er steht auf der Seite der Jugend. Aber er steht auf dieser Seite, ohne ihre Nöte profund, im Kern zu erfassen. Die Not der Schuljugend ist ihm das Schikanöse, abgründig Cäsarenwahnsinnige und Bitterböse einer Lehrergestalt, der Schultyrann. Sicher gibt es ihn, sicher soll er bekämpft und erlegt werden. Aber hat damit die Not ein Ende? Wir glauben: nein. In ihm findet ein Teil der problematischen Lage der Schuljugend ihr Symbol, vielleicht ist es der am leichtendsten zu bessernde, der heut schon gebesserte Teil. Darstellenswerter will uns das übrige, schwerer Faßbare scheinen: der atmosphärische Druck der Schulpflicht, das erzwungene Interesse am Lehrstoff, die quälende Langeweile, kurz, die problematischen Gegebenheiten, die jenseits von Gut und Böse der Lehrenden bestehen und vermutlich in irgendeiner Form immer bestehen werden. Damit soll nicht gesagt sein, daß dies alles in Friedrich Torbergs Roman keine Rolle spiele; es ist indes nicht sein Thema, es ist Milieu zu dem Thema: der böse Lehrer und der gutartige Schüler. Und dieses Thema ist wenig aktuell, es ist tendenziös in einem zeimlichen althergebrachten Sinne.“
Auch wenn ich die Einschätzung des Rezensenten nicht teile, so hat Maaß sicher recht, wenn er meint, dass in Torbergs Roman der Lehrer-Schüler-Konflikt im Mittelpunkt steht. Dies unterscheidet den Roman auch von Hermann Hesses Erzählung „Unterm Rad“ sowie „Freund Hein“, einem schulkritischen Roman von Emil Strauß.
„Unterm Rad“ aus dem Jahr 1906 erzählt vom hochbegabten Schüler Hans Giebenrath, der an den hochgesteckten Erwartungen seiner Umwelt, der ihn vereinnahmenden Pädagogik, aber auch an sich selbst scheitert und letztendlich betrunken im Fluss ertrinkt.
„Freund Hein“, 1902 erschienen, erzählt das Leben von Heinrich Lindner, der im Alter von 18 Jahren den Freitod sucht. Der musikalisch begabte und hochsensible Heiner kann dem Leistungsdruck der Schule, insbesondere der Mathematik, nicht mehr standhalten.
„Unterm Rad“, „Freund Hein“ und „Der Schüler Gerber“ – alle drei Werke habe ich in dieser Reihenfolge erstmals mit 16 Jahren gelesen. Mit großer Begeisterung gelesen, muss ich hinzufügen, die Bücher sind sehr zu empfehlen. Identifizieren konnte ich mich am meisten mit Kurt Gerber. Auch die Schilderungen der Klassengemeinschaft konnte ich in Torbergs Roman am besten nachempfinden.
Kein Wunder, liegt Torbergs Schulzeit kaum zurück, als er im Januar 1929 mit dem Schreiben seines Romans beginnt. Hermann Hesse ist fast dreißig Jahre alt, als „Unterm Rad“ erscheint, Emil Strauß hat die Vierzig bereits überschritten, als er mit „Freund Hein“ seinen Schülerroman schreibt.
„Der Schüler Gerber“ – ich habe das nochmalige Lesen des Romans nach zig Jahren genossen. Erinnerungen an die eigene Schulzeit kamen auf und einige der vorgestellten Romanfiguren hatten tatsächlich Ähnlichkeiten zu damaligen Mitschülern und Lehrern aufzuweisen. Torbergs Buch werde ich sicher immer mal wieder aus dem Regal ziehen.