Artikel von Sartorius in der „Weltbühne“, Ausgabe vom 13. August 1929
Berlin ist Zeuge eines erbitterten Kampfes der drei Warenhäuser Wertheim, Tietz und Karstadt. Es besteht zwar kein sonderlicher Grund zu diesem Kampf, denn in der täglich wachsenden Stadt, wo Wertheim und Tietz ihre Geschäfte machen konnten, mag auch ein Karstadt gedeihen. Berechtigt wird der Kampf erst sein, wenn noch Lafayette sein Warenhaus eröffnet, aber man hat der französischen Gesellschaft schon jetzt so viel Hindernisse bereitet, daß deren Pläne gar nicht verwirklicht werden.
Der Kampf, der heute geführt wird, geht nicht um die Existenz der drei Warenhauskonzerne, es ist mehr ein Kampf um das Ansehen, das Wertheim und Tietz nicht verlieren wollen. Dieser Kampf so geringfügig er erscheinen mag, wird mit aller Erbitterung geführt, die Karstadt dazu zwingt, schon nach vier Wochen unter dem Vorwand der Lagerräumung an dem Saison-Ausverkauf teilzunehmen, der in diesem Jahr besonders tobt.
Eine der Sensationen dieses Ausverkaufs sind die Hauskleider, die für 1,85 Mark angeboten werden. Der zweite Schlager sind Damenmäntel für 6,90 Mark. Wem sind diese Preise ganz geheuer? Auch das einfachste Kleid muß angefertigt sein. Der Schnitt des Kleides mag ganz schlicht sein, aber ein Kleid muß immerhin genäht werden. Fachleute, die befragt wurden, haben eine Auskunft erteilt, die Beachtung verdient.
Die Näherin, die solche Kleider anfertigt, erhält schätzungsweise 25 Pfennige für ein Kleid und näht wenigstens eine Stunde an jedem. Zehn Stunden ununterbrochener Arbeit bringen eine Einnahme von 2,50 Mark, dauernde Arbeit ohne Sonntagsruhe bringt 75 Mark im Monat. Die Zahl der Frauen und Mädchen, die diese Arbeit ungeachtet der schamlosen Bezahlung suchen, ist höchstwahrscheinlich sechsstellig. Es gibt zwar einen Verband der Heimarbeiterinnen, der aber bei weitem nicht alle verheirateten Frauen und stellungslosen Töchter erfaßt, die sich um Zuteilung soschlecht bezahlter Arbeit dringend bemühen.

Verwunderlich ist nur, daß die Behörden schweigen, oder diese Verhältnisse fördern, wie die Nähstuben des Arbeitsnachweises, wo stellungslose Stenotypistinnen ganz oberflächlich im Maschinennähen unterrichtet werden, als könnte man einen Kellner in einem Zwei-Wochen-Kursus zum fertigen Handsetzer ausbilden. Solche Auswege mag der Tüchtige sich allein suchen, sie können aber nicht von den Behörden gewiesen werden, die sonst auf Einhaltung aller strengen Lehrbestimmungen bestehen. Fürsorgeanstalten, wie das St. Afra-Stift, gehören besonders zu den Lieferanten, solcher billigen Kleider. Für jeden Zögling dieses Mädchenstiftes zahlt der Magistrat einen ausreichenden Versorgungszuschuß von täglich 2,50 Mark an die Stiftsleitung. Der Unterhalt der Mädchen ist sichergestellt und es liegt nur an einer verständnislosen Stiftsleitung, die durch ihre Zöglinge sich auf diese Weise besondere Einnahmen schafft.
Die Kostenaufstellung für Hauskleider, die für 1,85 Mark verkauft werden können, ist ein ganz interessanter Beitrag zur Zeit. Das Kleid, das für 1,85 Mark verkauft wird, ist beispielsweise aus bedrucktem Baumwollstoff, der nur eine Mark gekostet haben mag. 75 Pfennige sind für den sogenannten Zwischenmeister, der den Stoff zugewiesen erhält und die Anfertigung der Kleider derart übernimmt, daß er Lieferung, Zuschnitt und Bügeln besorgt und die Näharbeit von Heimarbeiterinnen ausführen läßt, die von seinem Lohn die 25 Pfennige pro Kleid erhalten. Mindestens 10 Pfennig Spesen und Steuern zahlt für jedes Kleid das Warenhaus, dem kein Verdienst bleibt, das ist zuzugeben. Darum nennt man Kleider, auch solche besserer Qualität, an denen nichts verdient wird, „Annoncenkleider“. Der Preis lockt die Kunden.
Das „Annoncenkleid“ ist werbend, der Preis ist ein Kampfpreis. Das geht niemand etwas an, aber das öffentliche Interesse wird wach, wenn dieser Kampf von denen mitausgefochten werden muß, die an den Nähmaschinen hocken und ein Kleid für zwei bis drei Groschen und einen Mantel für eine Mark anfertigen müssen.