Roman, Universitas Verlag, 1932
Was ist ein kunstseidenes Mädchen? Aus welcher Perspektive wird erzählt? Wie urteilte die Kritik?
„Man sollte nie Kunstseide tragen, denn die zerknautscht dann so schnell mit einem Mann“, sagt Doris eine ihrer ungehemmten Stilblüten, die das Lesen dieses Romans so humorvoll machen. Sie ist das Mädchen, das sich selbst nur Kunstseide leisten kann und wie viele andere Frauen auf etwas Besseres hofft.
Irmgard Keun lässt Doris in Form eines undatierten Tagebuchs aus ihrem Leben erzählen. Sie ist 18 Jahre alt. Keck, abenteuerlustig, sinnlich und mit allen Wassern gewaschen. Im Sommer 1931 lebt sie in einer rheinischen Stadt bei ihren Eltern in ärmlichen Verhältnissen. Ihre Arbeit als Stenotypistin langweilt sie – insgeheim träumt sie von einem Leben als Berühmtheit. Der Weg zum Ruhm führt für eine Frau nur über die Männer, weiß Doris trotz ihres Alters ganz genau.
Die Arbeitsstelle verliert Doris, als sie die sexuellen Avancen ihres Chefs zurückweist. Ihre Mutter, die am Theater als Garderobiere arbeitet, verschafft ihr eine Stelle als Statistin. Mit so manchem Trick gelingt es ihr, einen Satz im Stück sprechen zu dürfen. Als sie aber einer Theaterbesucherin einen Pelzmantel stiehlt, muss sie fliehen. Ohne Papiere verschlägt es Doris nach Berlin.
In der Großstadt kommt sie ihrem Ziel, „ein Glanz“ zu werden – materiell sorglos leben zu können und sich glücklich zu fühlen – sehr schnell ganz nahe. Draufloserzählend wie ihr der Schnabel gewachsen ist, berichtet Doris, wie sie den Großindustriellen Alexander kennenlernt, bei dem sie ein Leben in purem Luxus genießt. Das Glück ist nicht von langer Dauer – Alexander wird wegen Steuerhinterziehung verhaftet. Der blinde Nachbar, mit dem sie sich anfreundet, wird von seiner Frau in ein Heim gegeben.
Völlig mittellos lernt Doris den Angestellten Ernst kennen, der sie ohne Erwartung von Gegenleistungen bei sich leben lässt. Ernst trauert immer noch seiner Frau nach, die ihn verlassen hat. Doris beginnt, ihm den Haushalt zu führen und nach und nach entwickelt sich eine Beziehung zwischen ihnen. Doch Doris erkennt, dass Ernst seine Frau nicht vergessen kann und erwirkt deren Rückkehr.
Erneut ist Doris mittel- und obdachlos. Letztendlich entschließt sie sich, zu Karl zu ziehen, einem Hausierer, der in einer Gartenlaube lebt.
Nur knapp über 200 Seiten stark ist Irmgards Keuns zweiter Roman. Dennoch vereint er in sich drei verschiedene Romantypen:
„Das kunstseidene Mädchen“ ist ein Zeitroman. Eher beiläufig erzählt Doris von den Zuständen Anfang der 1930er Jahre. Selbst die Machtergreifung der Nationalsozialisten scheint sich in dem Buch anzukündigen. Die Wirtschaft liegt am Boden, viele Menschen sind arbeitslos. Als Frau scheint es nur die Alternativen zu geben, sich von einem Mann aushalten zu lassen oder als Prostituierte zu arbeiten.
Es ist auch ein Großstadtroman. Man sieht Berlin durch die Augen von Doris, für die die deutsche Hauptstadt der Inbegriff des Glücks darstellt. Bunt, laut, auf jeden Fall aufregend – aber es ist hart, in diesem Dschungel zu überleben und eine Schlafstelle und etwas zu essen zu bekommen.
Und natürlich ist „Das kunstseidene Mädchen“ auch ein feministischer Roman. Irmgard Keun beschreibt das Lebensgefühl von Frauen in der Weimarer Republik, die mehr vom Leben erwarten, als einen guten Ehemann zu finden.
„Das kunstseidene Mädchen“, nur einige Monate nach Keuns Erstling „Gilgi, eine von uns“ veröffentlicht, fand in den Feuilletons große Beachtung. Die Kritik war gespalten. Die einen sind begeistert, andere zerreissen den Roman.
„Irmgard Keun ist ein Kind dieser unserer Zeit und noch mehr als ihr bekanntes Erstlingswerk „Gilgi, eine von uns“ gibt dieser zweite Roman bei aller überwältigenden Komik ein erschütterndes Bild unseres aus den Fugen geratenen Daseins“, schreibt der unbekannte Rezensent im „Prager Tagblatt“. „In meisterhafter Steigerung rollt sich das so alltägliche Leben dieser triebhaft wirren Doris vor uns ab, der man doch nicht böse werden kann. Dies Buch wird ein Erfolg, das „kunstseidene Mädchen“ ein Begriff werden. Nur eine Frau kann so schreiben, das soll ihr ein Lob sein!“
Kurt Tucholsky findet: „Seit den Lausbubengeschichten Thomas haben wir so etwas nicht mehr gehabt, und daß das von einer Frau stammt, ist erstaunlich. Wie da unter dem Spaß der Ernst steht … Hier wächst etwas heran, was es noch nie gegeben hat: eine deutsche Humoristin.“
M. M. Gehrke dagegen dagegen spricht der Roman nicht an und schreibt in der „Vossischen Zeitung“: „Das ist schlecht kostümierter Apachenball, und das hätte Irmgard Keun nicht nötig gehabt.“
Und meine Meinung?
Ich halte es wie Karl Kurt Walter, der den Roman im Oktober 1932 im „Simplicissimus“ bespricht: „Aber das Buch ist bedeutend mehr als bloße Unterhaltung. Man könnte Tränen heulen, so echt ist dieses kleine Leben beschrieben. Trotzdem wird es nicht nach jedermanns Geschmack sein. Mir hat’s gefallen.“
Hat dies auf penwithlit rebloggt.
LikeLike