Franz Werfel – Begegnungen mit Rilke

Erinnerungen, abgedruckt in der Zeitschrift „Das Tagebuch“, April 1927

Ich hatte damals von Rilke einen Brief bekommen. Meine beiden Erstlingswerke waren erschienen und ich weiß bestimmt, daß ich sie ihm aus zweifelnder Scheu nicht zugesandt habe. Er aber hatte die Bücher nicht nur erstanden und gelesen, er setzte sich hin, mich durch einen Brief auszuzeichnen, und was mehr als beides war, er nahm sich die Mühe, meine Adresse bei Bekannten auszukundschaften. diese Mühe, die er sich sein Schreiben hat kosten lassen, machte mich am glücklichsten. Der Brief war sehr schön, einer jener Briefe, wie sie Rilke als Monologe seiner Einsamkeit an viele Adressaten richtete; Briefe, die Gedichte im kristallinischen Zustande sind, Briefe, in deren Essenz die wunderbarsten Gleichnisse aufgelöst wurden, um ihr einen zauberhaften Geschmack zu geben, aber dafür alle Unmittelbarkeit zu nehmen. Kunstwerke eines in jeder Regung wortbewußten Menschen, der alles, was er zu sagen hat, nur dichten kann!

Für mich hatte der Brief unschätzbare Bedeutung. Ich irrte auf allen guten und bösen Wegen des Anfangs, war ohne Führung aufgewachsen, kleinmütig und überheblich zugleich, da kam die Bestätigung durch einen Meister und gab mir neue Sicherheit.

In den damaligen Zeiten, – (so entrückt muß man sie jetzt wohl bezeichnen) – hatte ein name unvergleichlich schwereres Gewicht als heute, wenn auch die Möglichkeiten der Popularität geringer waren. „Dichter sein“, – das war etwas Religiöses, Gnade jenseits alles Willens, besondere Lebensführung, – keinesfalls aber bloße Gestaltungsgabe oder Originalität. Ein Mann, der ein paar wunderbare Gedichte geschrieben hatte, stand in höherem Rang für uns als die weltberühmtesten Romanciers und Dramatiker. Nicht umsonst haben die Meister der damaligen Jugend George, Hofmannsthal, Rilke geheißen. Ich glaube kaum, daß junge Menschen von heute die Entzückungen, ja, Lebenswandlungen verstehen können, die für uns aus einem Verse strömten. Die Lyrik, der Sinn für absolute Sprache, ist eines der letzten Kriegsopfer. Wir leben wieder am Beginn. Alles ist Zweck. Das knappe Wort, schwer von sachlicher Mitteilung, kann keine Flügel heben.

Rilke – (durch Landsmannschaft mir nahe) – hat mir den ersten Begriff vom Dichter gegeben: Ein unendliches Offensein und ständige Empfängnis des Lebens. Wenn mir dieser Begriff in seiner Passivität später nicht mehr genügen konnte, – so erschien Rilke doch als seine reinste Verkörperung. Er war für mich der große Dichter. Ich muß also die Erregung nicht beschreiben, die mich erfaßte, als ich einige Monate nach Erhalt seines Briefes Rainer Maria Rilke persönlich kennen lernen sollte. Dies geschah im Jahre 1913 in Dresden.

Ich weiß nicht mehr, ob der erste Eindruck von seinem Mund ausging – es war ein großer, offener Mund mit dicken, fast kindhaften Lippen – oder von seinen Augen oder von der grauen Farbe des Gesichts. Ich weiß überhaupt nicht, ob es das Gesicht war, von dem der erste Eindruck kam. Ich glaube, das Gesicht war es nicht, doch auch nicht die Gestalt. Es war seine Krawatte, so erinnere ich mich, die mir auffeil, das heißt die Art, wie diese Krawatte gebunden war. Eine ganz gewöhnliche Krawatte natürlich, und ebenso gewöhnlich geschlungen, aber wie von einer fremden Hand, so, wie man es bei Kindern merkt, daß ein Erwachsener die Schleife gebunden hat. Der Dichter war sehr adrett gekleidet. Aber diese Adrettheit schien nicht ganz zu ihm zu gehören. Fast fremd saßen die wohlgehaltenen Kleider an seinem unmateriellen Leib, fremd, wie die Kleider an den Puppen in der Auslage eines Herrenkonfektionsladens. Man konnte auch an die Sonntagsordentlichkeit eines Schulknaben denken. – Ich fühlte damals eine Spannung zwischen Rilkes innerem und äußerem Menschen, die mich rührte. Er hatte die faltenlose, unbewegte Äußerlichkeit eines Blinden. Seine schönen Bewegungen waren hilflos, als müßten sie immer erst Lähmungen überwinden. Solche Menschen sich im Alltag vorzustellen, die Handgriffe des Lebens verrichtend, het etwas sehr Rührendes. Ich habe niemanden kennen gelernt, bei dem die Unverbundenheit seelischer und alltäglicher Existenz rührender gewesen wäre.

Rilke sprach ein heimatloses Deutsch ohne jeden Dialektklang. Ich möchte es fast ein keimfreies Deutsch nennen. Nur bei sehr scharfem Zuhören konnte man Spuren des österreichisch-ärarischen Tonfalls böhmischer Provenienz entdecken. Mit diesem Sprachinstrument rezitierte er immer wieder Verse, fremde und eigene. Sein großer, offener Mund verlor im Vortrag alles Kindisch-Erstaunte, Stimme und Sprache schienen, nur wenn sie Gedichte sagten, in ihrem Element zu sein. Kaum, daß er mich begrüßt hatte, brachte er die Rede auf Goethes „Pandora“, die er in diesen Tagen eben las. Ich hatte Glück. Denn dieses Lieblingswerk kannte ich seit Jahren schon zum größten Teil auswendig. Ich schlug die ersten Verse an, Rilke setzte fort. Von solchen Stellen wie: „Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist – fliehe mit abgewendetem Blick!“ konnte er sich gar nicht trennen und zehnmal wiederholte er:

"Fische, sie wimmeln da, 
Vögel, sie himmeln da."  

Seine grauen Augen standen weit offen und der schöne Septembertag war für ihn völlig von den trunkenen Versen aufgesogen. Auf dem langen Spaziergang, den wir nachher machten, rezitierte er unaufhörlich weiter. Von seinen eigenen Gedichten, galube ich, sprach er nur ein paar Stücke aus dem „Marienleben“. Als ich begeistert war, wehrte er ab und zeigte sich unbefriedigt. Auch zum „Stundenbuch“ wollte er sich damals nicht mehr bekennen. Er nannte es formlos und meinte, es wäre nur eine Improvisation: „So hätte ich ohne Anfang und Ende immer weiter dichten können.“ Vor dem „Cornett“ aber, der etwas später einen unerhörten Siegeslauf antreten sollte, sprach er mit einer kaum beherrschten Abneigung als von einem „Jugendwerk“.

Ich muß gestehen, daß ich in diesen Stunden Rilke noch nicht recht nahe kommen konnte. Seine Sphäre hatte etwas Frmedes für mich, etwas Saftlos-Verfeinertes, das mich anstrengte und müde machte. Ich war sehr jung und mein Temperament wehrte sich dagegen, stundenlang nur „im Wort zu leben“. Ich sehnte mich nach irgendeiner Derbheit. Zum Überfluß mußte ich Mittags mit dem Dichter in einer vegetarischen Wirtschaft einkehren, denn Rilke aß kein Fleisch. Ich bewundere jeden Vegetarianer. Nichts ist einleuchtender als Sündhaftigkeit und Barbarei des Tiermords, von dem wir uns nähren. Wahrscheinlich hängt die menschliche Raubtiernatur mit dem Fleischgenuß zusammen. Für alle Bestien gilt ja das gleiche Gesetz. Trotz dieser Einsichten habe ich eine aufrichtige Antipathie gegen vegetarische Speisehäuser. Es ist immer dasselbe. Die Menschen kompromittieren ihre schönsten Gesinnungen. In derartigen Lokalen verkehren allzuviel fanatische Sektierer, Bläßlinge, hochmütige Kranke, Überzeugungsprotzen, Leute von prinzipiell schlechtem Appetit, Menschen, denen der Genuß schwerer fällt, als die Entsagung. Selbst an der Seite des verehrten Rilke wurde ich hier unruhig. Ich verschlang ein Grünzeug und sann auf Flucht.

Wie gut, daß mir diese Flucht nicht gelang, sonst hätte ich den wahren Rilke gar nicht kennen gelernt. Vielleicht hat er meine Nervosität damals gespürt. Denn schon eine halbe Stunde später saßen wir auf der Terrasse des „Italienischen Dörfchens“ und sahen der Elbe zu. Und hier verwandelte sich der Künstler, der stundenlang vorher nur von Worten und Versen besessen war, in einen Menschen, der stockend von frühen Erlebnissen berichtete. Ich hatte das Gespräch auf unsere gemeinsame Vaterstadt, auf Prag, gebracht. Rilke, der jahrzehntelang in Rußland, Deutschland, Paris gelebt hatte, sah die alte Stadt nicht ohne Ergriffenheit vor sich. Er fühlte das Erbteil aller nichtslawischen Prager: Doppelte und dreifache Heimatlosigkeit. In seinen letzten Lebensjahren hat sich dieser deutsche Dichter, dessen Seele in Rußland erwacht war und der französische Poesien schrieb, immer wieder die Frage stellen müssen: „Wohin gehöre ich?“ Doch gerade auf diese Frage gibt es keine Antwort.

Rilke begann von seiner Kindheit zu erzählen. Von allem, was ich hörte, ist mir nichts so fest in Erinnerung geblieben, als die Jahre der Kadetten- oder Militär-Unterrealschule, die er durchleiden mußte. Dieser zarte Körper, an dem das Zivil so ordentlich und hilflos hing, hatte als Kind in einer „Montur“ gesteckt, in formlosen blauen Hosen, in einem groben Rock mit Aufschlägen. Auf dem Kopf die Offizierskappe en miniature und um die Hüften den „Überschwung“! Ein Bild, zum Streicheln traurig! Rilke erzählte, daß er in seiner Schwächlichkeit den Anforderungen der Militärerziehung nicht gewachsen war, insbesondere physisch nicht. Er erzählte von der Qual der Turnstunden. So lebendig war dem Achtunddreißigjährigen noch diese Qual, daß er gewisse Momente an Turngeräten, Momente des Exerzierens und Fechtens, die Angst, den Schreck des Frühgewecktwerdens, schlechten Schlaf und alles Grauen einer spartanisch reglementierten Kindheit genau darstellen konnte. Aber die Hölle wäre nicht vollkommen gewesen, wenn das schwächliche Kind nicht den Hohn robusterer Mitschüler und die Bissigkeiten schneidiger Lehrer in allstündlicher Blamage hätte ernten müssen. Und jetzt kommt das Wunderbare! Ein anderer Knabe würde seinen Vater um Erlösung angefleht haben, oder er hätte sich, wo es nur anging, zu drücken versucht, oder es wäre in ihm ein böser, verstockter Widerstand groß geworden. Aber der kleine Rilke hat in dieser Zeit die Wahrheit späterer Verse bewährt:

„Denn selig sind, die niemals sich entfernten,

Und still im Regen standen, ohne Dach.“

Täglich tritt er an. Täglich mit der gleichen unbewußten Ergebung, die sein ganzes Wesen ausmacht. Er entzieht sich der Pein und Schande nicht. Er klagt niemals. Täglich unternimmt er mit der gleichen Hoffnungslosigkeit die Bewältigung von Übungen, für die er zu schwach, zu ungeschickt oder zu verträumt ist. So lange, bis er eines Tages ohnmächtig zusammenbricht und schwer erkrankt.

Diese Krankheit, so erzählte der Dichter, war der Wendepunkt seines Schicksals.

Nicht nur, daß sie ihn in der Folge von der militärischen Laufbahn befreite! Von Stund an verwandelte sich auf die merkwürdigste Art das Verhältnis seiner Lehrer und Kameraden zu ihm. Der Ausgestoßene und Verachtete fand jetzt Schonung, Liebe, ja, sogar Ehre. Nach jener Ohnmacht wuchsen in ihm, wie Rilke mir versicherte, magische Kräfte, die später wieder verlorengingen. Knaben, die an irgendwelchen Schmerzen litten, auch die der höheren Jahrgänge, kamen zu ihm, denn es hatte sich im Institut die Kunde verbreitet, der kleine Junge könne durch Handauflegen alle möglichen Beschwerden heilen.

Diese Krankheit war der Wendepunkt seines Lebens. Rilke hat recht. Aber mehr, sie war die Geburtsstunde des Dichters in ihm.

Das Leben erdulden! Am leben versagen! Das Leben überwinden! Ist nicht aus diesen drei Elementen jeder Dichter geboren? In keinem waren sie je reiner gemischt als in Rilke. Auf der feinen Grenze zwischen Versagen und Überwinden hatte er seinen Wohnort errichtet, einen einsamen, unwohnlichen Ort. Er hat dort niemals Besuch empfangen. Der Tod war sein Nachbar. In einem bequemeren Quartier hätten seine Gleichnisse nicht ihre zauberhafte Kraft bekommen. Die schönsten unter ihnen sind wie Handauflegen.

                                     

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