Thomas Wolfe – Schau heimwärts, Engel

Roman, Ernst Rowohlt Verlag, 1932

Welcher Literaturnobelpreisträger beschleunigt den Welterfolg des Romans? Was hat das Buch mit Thomas Manns „Buddenbrooks“ gemeinsam? Was begeistert mich an dem Buch?

Es gibt nicht viele literarische Figuren, die mir auch Jahre nach dem Lesen noch so präsent sind wie Eugene Gant. Und auch die weiteren Familienmitglieder Gant, vor allen Dingen Eugenes Eltern, machen in „Schau heimwärts, Engel“ nachhaltig auf sich aufmerksam.

Erzählt werden die ersten zwanzig Lebensjahre des Eugene Gent, von seiner Geburt bis zu dem Tag, an dem er seine Familie verlässt. Eugene wird als neuntes und jüngstes Kind von Oliver Gant und dessen Frau Eliza in der amerikanischen Provinz North Carolinas in der Kleinstadt Altamont geboren (die ersten drei Kinder sterben früh, zwei bereits bei der Geburt). Es sind die Konflikte der Eltern, die sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen. Sein Vater, ein Steinmetz, ist ein Trunkenbold, ein Einzelgänger und zügelloser Mensch von fünfzig Jahren, seine Mutter, eine engherzige Frau schottischer Abstammung, eine Krämerseele, ist bei Eugenes Geburt zweiundvierzig Jahre alt.

Die Gegensätze seiner Eltern bestimmen Eugenes Kindheit. Während sich sein Vater deprimiert und mutlos regelmäßig mit Alkohol betäubt, plant Eliza ihre geschäftliche Zukunft. Sie stammt aus einer angesehenen Südstaatenfamilie und wuchs nach dem amerikanischen Bürgerkrieg in bitterer Armut auf – Erlebnisse, die sich im Roman in Geiz und Raffgier äußern. Ihre erste Geschäftsidee: Sie will während der Weltausstellung in St. Louis eine Pension für Touristen aus Altamont eröffnen und fährt mit ihren vier jüngsten Kindern los. Ihr Mann soll nachkommen, wenn alles gut geht. Tatsächlich gelingt der Plan mit der Pension, doch einer ihrer Söhne stirbt an Typhus. Eliza kehrt mit ihren Kindern nach Altamont zurück.

Ihre geschäftlichen Pläne gibt Eliza nicht auf und kauft einige Jahre später in Altamont ein großes Haus und eröffnet die Pension Dixieland. Sie selbst zieht mit Eugene in das Haus ein. Der Junge pendelt nun zischen dem Vater und der Mutter, die ihn über ihre Arbeit häufig vergisst. Ein eigenes Zimmer hat der Junge nicht – er schläft immer dort, wo gerade kein Gast ist.

Halt findet Eugene bei seinem Bruder Ben und baut ein inniges Verhältnis zu ihm auf. Halt bietet ihm auch die Schule und die Bibliothek des Ortes, in der er viel Zeit verbringt.

Als er mit zwölf Jahren einen Aufsatzwettbewerb in seiner Schule gewinnt, darf er fortan auf eine neu gegründete Privatschule gehen. Widerwillig bezahlt seine Mutter das Schulgeld für ein Jahr. Eugene blüht auf der Schule auf und entwickelt eine besondere Beziehung zu seiner Englischlehrerin, in die er sich bald verliebt. Doch der Besuch der Privatschule entfremdet ihn noch ein Stück mehr von seiner Familie.

Nach vier Jahren an der Privatschule besucht Eugene eine staatliche Universität. Ein Kommilitone nimmt ihn mit in ein Bordell. Obwohl sich Eugene dafür verachtet, besucht er das Haus mehrmals wieder. Als er die Weihnachtsferien in Altamont verbringt, sind seine Lenden voller Ungeziefer. Er vertraut sich Ben an, der ihn zu einem Arzt bringt, der ihm Medikamente verschreibt. Eugene, der vor Angst vergangen war, die Quittung für sein unmoralisches Verhalten zu erhalten, fühlt sich schlagartig erlöst.

Im darauffolgenden Sommer lernt Eugene in der Pension seiner Mutter Laura kennen und verliebt sich zum erstenmal. Die Liebe nimmt ein jähes Ende: Laura reist ab und enthüllt in einem Abschiedsbrief, dass sie bereits verlobt sei und bald heiraten werde.

Eugene fährt nach Norfolk in Virginia. Damit ist er zwar in der Nähe Lauras, er sucht sie aber nicht auf. Er lässt sich treiben, streift durch die Straßen und meint manchmal in der Menge, Laura zu erkennen. Als sein Geld aufgebraucht ist, sucht er sich Arbeit, die aber nicht so leicht zu bekommen ist. Er verwahrlost, leidet häufig Hunger und kann schließlich vor Schwäche kaum noch aufstehen. Am Ende des Sommers hat er fast 30 Pfund Gewicht verloren und Laura endgültig aufgegeben.

Ein Telegramm seiner Mutter lässt ihn heimkehren: Ben sei an einer Lungenentzündung erkrankt. Als Eugene schließlich in Altamont eintrifft, liegt Ben bereits im Sterben. Mit seinem Tod sind alle Familienbande für Eugene abgeschnitten – er verlässt die Familie.

„Schau heimwärts, Engel“ ist ein autobiographischer Roman, und Thomas Wolfe gibt das offen in seinen Vorbemerkungen „An den Leser“ zu: „Sollte jemand also das Buch autobiographisch nennen, weiß der Verfasser nichts darauf zu entgegnen …“ Dass er mit seinem Roman in seiner Heimatstadt Asheville anecken würde, scheint ihm auch bewusst zu sein: „Wenn der Autor den Lehm des Lebens genommen hat, um daraus sein Buch zu formen, hat er damit nur das genommen, was jeder nehmen muss und niemand beiseitelassen kann. Erfundenes ist keine Tatsache, aber Erfundenes wählt und durchdringt Tatsachen, ordnet sie und verleiht ihnen Sinn.“

Tatsächlich löst das Erscheinen des Romans Turbulenzen in Asheville aus, vergleichbar mit dem Unmut, den das Erscheinen der „Buddenbrooks“ in der Lübecker Gesellschaft nach sich zog. Thomas Mann musste sich seinerzeit als Nestbeschmutzer beschimpfen lassen.

Sowohl Mann als auch Wolfe haben auf diese Empörung nicht viel gegeben. Wolfe erfreut sich an vielen freundlichen bis begeisterten Besprechungen. Als Sinclair Lewis, der 1930 als erster amerikanischer Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhält, Wolfes Roman in seiner Nobelpreisrede als „eine kolossalische Schöpfung voll tiefer Lebenslust“ lobt, wird „Schau heimwärts, Engel“ weltweit bekannt.

1932 erscheint der Roman auf Deutsch im Ernst Rowohlt Verlag (der auch schon Bücher von Ernest Hemingway herausgebracht hatte). Eine beachtliche Leistung, vor allen Dingen, wenn man bedenkt, dass der Verlag in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckte (die erst durch das Erscheinen von Kleiner Mann, was nun? von Hans Fallada behoben wurden). „Das ist die stärkste Dichtung des heutigen Amerika, die ich kenne“, urteilt Hermann Hesse in einer Besprechung.

Mich begeistert vor allen Dingen die Energie, die von Wolfes Roman ausgeht; die stetigen Konflikte und Reibereien des Ehepaares Gant erzeugen dieses Kraftfeld. Hier der ruhelose, zu Exzessen neigende Vater, dort die bedächtige, geizige und raffgierige Mutter. Mit Oliver und Eliza porträtiert Wolfe nicht nur seine eigenen Eltern, er stellt in ihnen zwei amerikanische Urcharakter dar: den Pionier und Einwanderer auf der einen Seite, den Kapitalist auf der anderen.

Und dann ist da noch Eugene. Vor allen Dingen das Widersprüchliche an ihm fasziniert mich. Er zeichnet sich durch eine große Maßlosigkeit aus, kann essen wie ein Scheundendrescher, frisst Bücher – Abenteuerbücher, Lehrbücher unterschiedlichster Fächer – in sich hinein, zeigt schon in jungen Jahren sexuelle Begierden – kann aber auch klaglos Hunger leiden wie in seiner Zeit in Norfolk. Eugene fühlt sich oft einsam und als Außenseiter, scheint aber keine Probleme zu haben, auf Menschen zuzugehen und vielfältige Kontakte zu pflegen.

„Eine Geschichte vom begrabenen Leben“ (so der Untertitel) hat Thomas Wolfe seinen Roman genannt. Das kann als Abrechnung mit seiner Familie gewertet werden. Es kann aber auch ein Ausdruck dafür sein, dass Wolfe den literarischen Erfolg seines Manuskriptes nach Fertigstellung nicht recht einschätzen konnte. Dieser Pessimismus schien sich zunächst zu bewahrheiten, als Wolfe keinen Verlag für sein Werk fand.

Heute, über neunzig Jahre später, gilt „Schau heimwärts, Engel“ als einer der wichtigsten amerikanischen Romane in der Literaturgeschichte.

Ein wundervolles Buch!

4 Kommentare zu „Thomas Wolfe – Schau heimwärts, Engel

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