Robert Anton – Der Ehrengast

Erzählung, veröffentlicht in der Wiener Arbeiter-Zeitung am 22. Januar 1931

Ein Mensch steht vor einem Spiegel. Es ist ein schäbiger, halbblinder Spiegel, aus dem ein blas­ses, schlecht rasiertes Gesicht schaut. Und es kom­men mit einemmal Worte. Dumme Worte. 

„Ich habe es satt, zu hungern“, sagt der Mensch. 

Der im Spiegel nickt. 

„Bis heute war ich anständig. Habe alles getan, was man nach Ansicht der wohlerzogenen anständigen Menschen tun soll und muß. War höflich, korrekt. Was habe ich dadurch erreicht? Daß ich hier stehen und feststellen kann: ich habe es satt, zu hungern. Von heute an wird alles anders sein. Von heute an bin ich roh, gemein, brutal wie das Leben. Und vor allem andern werde ich jetzt mal anständig essen!“ 

So geht er denn. Auf der Straße ist es kalt. Autolich­ter spiegeln im nassen Asphalt. Leuchtend lockt ein Restaurant. 

„Ich habe keinen Groschen in der Tasche? Egal! Ich will, ich muß essen!“ 

In der Drehtür stößt er auf einen Herrn. Einen so­liden, kleinen Herrn mit krummen Beinen, dem er instinkt – oder gewohnheitsmäßig den Vortritt läßt. Lächerlicher Rückfall in das Gebaren einer als über­flüssig erkannten Kinderstube. 

Im Speisesaal stehen Blumen auf weiß gedeckten Ti­schen. Die Musik spielt einen Tusch. Ein Aufgeregter im Cutawan, wahrscheinlich der Geschäftsführer, kommt dem Krummbeinigen entgegen, verneigt sich, spricht. Der lacht verlegen. Wehrt ab. Läßt sich dann, ein wenig widerstrebend, zu einem erhöhten Tisch geleiten, nimmt Platz. In Kübeln werden Champag­nerflaschen gebracht, Kellner schwingen Platten mit Speisen.

Der Hungrige sitzt in der Nähe der Tür. Endlos lange dauert es, bis die Bedienung kommt. Endlos lange, bis er den ersten Löffel mit Brühe an die ausgetrock­neten Lippen führt. Wohltuend rinnt Wärme in den Leib.

„Es wird Ärger geben nachher“, weiß er, „vielleicht lassen sie mich einsperren. Egal! Endlich einmal werde ich satt sein! Roh! Rücksichtslos satt! Daß ich dem Krummbeinigen vorhin den Vortritt ließ, war der letzte Rückfall in die Höflichkeit. Aus!“

Dem wird jetzt etwas Kompliziertes serviert. Der Geschäftsführer im Cut redet noch immer auf ihn ein. Serviettenwedelnd bemühen sich Kellner um ihn. Wer ist der Kerl eigentlich?

Das fragt auch ein Herr am Nebentisch. 

„Sagen Sie mal, Ober“, fragt er, „wer ist denn dieser kleine Mensch, mit dem da soviel Aufhebens ge­macht wird? Irgendein Prominenter oder sonst?“ …  „Der Herr“, verkündet der Kellner, und seine Stim­me klingt feierlich, „der Herr ist unser hunderttau­sendster Gast. Ne zufällige Sache. Rücksicht aufs Geschäft, wissen Sie. Dem wird vom Besten serviert, wo wir haben. Zahlen darf er selbstredend nicht. Un­ser Ehrengast, mein Herr!“

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