Irmgard Keun – Nie wieder lügen

Erzählung, in der Pariser Tageszeitung am 30. Mai 1937 erschienen

Warum ist die Erzählung ein typischer Keun-Text? An welchen Roman von Irmgard Keun fühle ich mich spontan erinnert?

Vierzehn Jahre alt ist das Mädchen, das erstmals in die Tanzstunde gehen soll. Die Tante schneidert noch schnell „ein Kleid aus alten quittegelben Gardinen. Das Kleid hat die Form eines Eimers. Wenn mans auf den Boden stellt, bleibt’s kerzengerade stehen, so schön deftig und steif ist der Stoff.“

Da ist er, der Keunsche Humor (den ich soooo sehr liebe!!!) und begleitet mich durch die Erzählung. Lehnt das Mädchen die Tanzstunden zunächst lediglich ab, hat es schon bald Qualen auszustehen, als die Übungen mit den „jungen Herren“ anfangen. Und dann betritt eine gewisse Elisabeth Pinn die Bühne, die „ein Kleid trägt wie ein zart durchblautes Lämmerwölkchen. Sehr vorteilhaft hebt sich das von meinem steifbockigen Prunkgewand ab.“

Elisabeth ist schon bald das begehrteste Mädchen von allen. Graziös, wohlerzogen, fleißig, liebenswürdig und charmant, wie die Mutter unserer Heldin findet. Diese hat „endgültig genug von allem“ und erklärt zu Hause, die Tanzlehrerin hätte gebeten, die Erwachsenen mögen in den nächsten Tanzstunden nicht mehr zum Zuschauen kommen.

Eine Lüge, die ohne Folgen bleibt, aber bald die nächste Lüge nach sich zieht. Um Geld für eine Theatervorstellung zu bekommen, deren Besuch ihr ihre Eltern verboten haben, erklärt die namenlose Vierzehnjährige Elisabeth Pinn für tot und bittet Tante und Eltern um Geld für einen Kranz.

Der spontane Plan geht auf. Doch jetzt beginnen die Nöte. Denn die „Mutter hätte Frau Pinn in der Stadt gesehen, aber die war gar nicht in Trauer gewesen.“ So muss noch eine dritte Lüge herhalten: „Elisabeth Pinn lebt, sie war nur scheintot.“

Elf Jahre später gesteht unsere Heldin ihre Lügen ein. Eine Lektion hatte sie bereits vorher gelernt: „Ach, wie mich die ganze Lügerei anwidert, wie ich mir vorkomme. Lügen macht einem ja gar nichts weiter aus, wenn einem nicht geglaubt wird, aber wenn einem die Lügen so treuherzig geglaubt werden – also, das ist reinste Tierquälerei.“

Im Mai 1937 erscheint die Erzählung in der „Pariser Tageszeitung“. Sechs Jahre zuvor wird die Keun schlagartig bekannt durch ihren Roman „Gilgi, eine von uns“. Alfred Döblin und Klaus Mann sind begeistert. Kurt Tucholsky schreibt in der „Weltbühne“: „Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an! Hurra! Hier ist ein Talent.“ Innerhalb weniger Monate verkaufen sich 30.000 Exemplare des Erstlings.

Mit Das kunstseidene Mädchen knüpft Irmgard Keun bereits ein Jahr später an den Erfolg von „Gilgi“ an. Wieder steht die Lebenssituation einer jungen Frau und ihr Kampf um Selbstständigkeit im Mittelpunkt des Geschehens.

„Nie wieder lügen“ ist ein typischer Irmgard Keun-Text. Denn wieder ist es die scheinbar naive Perspektive des namenlosen Mädchens, ihre Unbekümmertheit, die der Erzählung ihre Frische verdankt.

Das gilt auch sowohl für Gilgi als auch für Doris, dem kunstseidenen Mädchen, und es gilt auch für Sanne in „Kurz nach Mitternacht“.

Das Bild zeigt die 3 Bände "Exil" - im Exil geschriebene Texte von deutschsprachigen Autorinnen und Autoren.

Vor allen Dingen aber fühlte ich mich nach dem Lesen der Erzählung an „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“ erinnert. Der Roman erscheint ein Jahr zuvor im Amsterdamer Verlag Allert de Lange. Auch dieses Mädchen bleibt namenlos. Es ist nicht bereit, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist und hält sich nicht an alle von den Erwachsenen aufgestellten Regeln. Ein wunderbares Buch!

Die Erzählung „Nie wieder lügen“ habe ich in der dreibändigen Ausgabe „Exil – Literarische Wortmeldungen aus deutschsprachigen Zeitschriften 1933 – 1950“, veröffentlicht in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (ISBN 978-3-8062-4534-9), gefunden. Ob sie noch anderweitig verfügbar ist, kann ich nicht sagen. Es ist aber wahrscheinlich, dass sie in der Werkausgabe des Wallstein Verlags enthalten ist.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s