Hans Fallada – Stimme aus den Gefängnissen

Erfahrungen, veröffentlicht in der Zeitschrift „Das Tage-Buch“, Heft 1, 1925

Ich habe vor kurzem nahezu fünf Monate Gefängnis in einer mittleren Strafanstalt Deutschlands verbüßt. Dabei habe ich eine Reihe von Beobachtungen gemacht, deren Mitteilung vielleicht nicht allein von dem Gesichtspunkt aus, daß jeder jeden Tag in Untersuchungshaft oder Strafhaft geraten kann, interessant erscheint. (Für Heuchler, die sich diese Gefahr leugnen, schreibe ich nicht.) Ich fühle mich ein wenig wie ein Reisender, der aus einem unbekannten Weltteil zurückgekehrt ist. Ich bin dort gewesen, wo die Seele seltsame Veränderungen erleidet oder, nach längerer Haft, schon erlitten hat, jene Veränderungen eben, die dem „Gebildeten“ den „Gewohnheitsverbrecher“ unverständlich machen. Den Verbrecher, der stiehlt, wie ein anderer arbeitet, ohne Erregung, selbstverständlich, wird man in der Literatur nicht finden. Er ist noch nicht entdeckt. Die Frage, ob er geworfen ist oder je so war, ist noch unentschieden.

Das Publikum beschäftigt sich kaum mit dieser Frage, es überläßt sie den Fachgelehrten: den Juristen und allenfalls noch den Psychiatern. Der Theologe, der sie auch für sein Arbeitsgebiet hält, geht von der sentimentalen Seite an die Sache heran, er spricht vom „Standpunkt des Lebens“, das „gerettet“ werden muß. In seiner Ahnungslosigkeit für Seelisches wird er nie verstehen, daß solche Rettung unmöglich ist: psychische Veränderungen lassen sich nicht rückgängig machen, wie auf physischem Gebiete kein Arzt einem Arm, den ein Zahngetriebe verkrüppelte, seinen früheren Zustand zurückgeben kann. Man soll Schutzvorrichtungen am Getriebe anbringen, da liegt es.

Ich bemerke noch, daß sich meine Beobachtungen und Angaben auf eine Strafanstalt mit einer Belegungsfähigkeit von 130 Mann beziehen, in der im allgemeinen nur Strafen bis zu einem Jahr vollstreckt wurden. Straf-, Haft- und Untersuchungsgefangene waren nicht in von einander abgeschlossenen Abteilungen untergebracht.

I.

Der Untersuchungsgefangene ist ein Gefangener, dessen Schuld erst bewiesen werden soll, bis zum Termin noch zweifelhaft ist. Die Haft soll ihn an der Flucht, an an einer Verdunklung des Tatbestandes hindern. Man sollte danach annehmen, daß solch, in der Gefängnissprache kürzer gesagt, Untersucher, außer der Beschränkung seiner Freiheit, jedes nunr mögliche Entgegenkommen findet, denn seine Haft ist ja immerhin möglicherweise unverdient.

Ich beweise: dem Untersucher geht es schlechter als dem Strafgefangenen! Der Untersucher liegt fast stets auf Einzelzelle. Er sitzt Monate und Monate allein, mit keinem Menschen kann er ein Wort wechseln. Früh morgens wird er aus seiner Zelle gelassen und darf eine halbe Stunde in streng vorgeschriebenem Abstande von Vor- und Hintermann im Freihof spazieren gehen. Zwei Beamte passen dabei scharf auf, daß nicht ein Wort gewechselt wird. Wagt es jemand, wird er abgeführt und streng bestraft. Will der Untersucher arbeiten, so kann er auf seiner Zelle Taue mit den Fingern zu Werg zerzupfen, die tötendste, langweiligste Arbeit, die es gibt. Darf der Untersucher rauchen? Jawohl, Erlaubnis kann ihm erteilt werden, ich habe aber nur in zwei Fällen erlebt, daß sie erteilt wurde. Wenn er Geld hat, darf er sich Lebensmittel besorgen lassen, aber welche Schwierigkeiten werden ihm dabei bereitet! Wie oft muß er erinnern, wie lange warten! Vor allem: Männer, von denen sich doch mancher unschuldig glaubt, müssen um jede Kleinigkeiten bitten, bitten, bitten, die ihnen noch weiteres gewährt werden müßte.

Der Strafgefangene ist dagegen den ganzen Tag mit seinen Gefährten zusammen, er arbeitet draußen in der frischen Luft auf dem Holzhof, in Gärtnereien, auf Gütern, er schwatzt mit den andern, er sieht die Welt: Bäume, Straßen, Menschen. Der Untersucher hat die vier weißen Zellenwände und die blinde Scheibe seines Fensters, er hört das Schlüsselbund klappern, das ist seine Welt. Der Strafgefange raucht fast täglich, auf den Gütern bekommt er reichlichere Kost, in der Anstalt häufig Zusatzportionen. Der Untersucher kann hungern.

Wenn die Untersuchung wenigstens schnell ginge, beschleunigt würde! Aber dieses endlose Verschleppen gehört zu den größten Unbegreiflichkeiten und Grausamkeiten, die denkbar sind. Es vergehen Wochen und Wochen von einer Vernehmund zur andern, Monate geschieht nichts, der Gefangene muß warten. Nur warten. Ich weiß schon: sicher geschehen unterdes ungeheure Dinge mit den Akten, sie werden von Prenzlau nach Potsdam geschickt. Eine kommissarische Vernehmung. Frist bis da und da. Frist überschritten. Anmahnen. Der Gefangene wartet.

Der Strafgefange weiß, den und den Tag werde ich frei sein, der Untersuchungsgefange grübelt: wer weiß? Er wartet.

Mich selbst hat ein gnädiges Geschick von der Untersuchungshaft bewahrt, aber wenn ich an manchen mir bekannten Untersucher denke, der nun schon im zehnten oder elften Monat seiner Haft lebt, packt mich eine grenzenlose Erbitterung gegen jene Herren Untersuchungsrichter, die vollständig vergessen zu haben scheinen, daß es Menschen sind, die dort warten, verzweifelnd und verzagend warten. Genügt es denn nicht, daß er pünktlich seinen Haftverlängerungsbescheid bekommt, der ihm mitteilt, wieviel Wochen er vorläufig weiter warten darf? Der Untersuchungsrichter denkt, es genügt.

Dann tritt das ein, was man in der Gefängnissprache „Spinnen“ heißt: „X fängt an zu spinnen.“ Beim Vorbeigehen hört man ihn reden in seiner Zelle, restlos, immerzu, nur um seine Stimme zu hören, er weint dazwischen. Er bekommt Wutausbrüche. Der Gefangene wird verwarnt, er wird vorsichtig behandelt. Eines Tages ist er dann stumm geworden. Er spricht nicht mehr, er liest nicht einmal mehr sein eines Bibliotheksbuch in der Woche. Oft weigert er sich sogar, zur Freistunde zu gehen, er stellt seine Arbeit ein. Nun sitzt er allein oben in seiner Zelle, monatelang. Was tut er? Was denkte er?

Es geschah, daß ein Untersucher, der so zehn Monate in Einzelzelle gelegen hatte, in eine neu eingerichtete Gemeinschaftszelle für Untersuchungsgefangene verlegt wurde. Man glaubte, er würde glücklich sein. Er flehte, in seine Zelle zurückzudürfen. Er konnte die Gesichter der Menschen nicht mehr ertragen, ihr Sprechen nicht, nicht ihren Geruch. Wird er je wieder „draußen“ unter anderen Menschen leben können? Welche Veränderungen sind in ihm vorgegangen!

Jeder kann jeden Tag verhaftet werden. Aller Sache ist es, von der ich schreibe, nicht die einzelner, fremder Menschen. In den Gefängnissen die Leute sind nicht anders wie du, sie leiden wie du, sie möchten leben wie du. All dies hat, so umgrenzt, gar nichts mit den großen Worten wie Gerechtigkeit zu tun. Es ist eine rein praktische Frage, die jeden angeht.

II.

Doch auch das Leben des Strafgefangenen ist schwer und dunkel genug. Gewiß, es gibt eine kleine Gruppe, die sich wohl fühlt, für die Strafe überhaupt keine Strafe ist. Es sind das in der hauptsache junge Burschen vom Lande mit wenig entwickelter Intelligenz und geringem Trieb zum andern Geschlecht, ihre ganze Sorge konzentriert sich darauf, daß sie auch genug zu essen bekommen.

Zu ihnen treten die Walzenbrüder, die meist wegen Bettelei ihre sechs Wochen „abreißen“. Sie, die teilweise sehr oft vorbestraft sind (ich lernte einen kennen, der seine 43. oder 44. Strafe verbüßte), stehen der Strafhaft mit heiterer oder brummiger Gelassenheit, jedenfalls mit Gelassenheit gegenüber. Für ihre Einstellung scheint mir eine Frage kennzeichnend, die der eben erwähnte Rekord-Vorbestrafte an einen Untersucher, einen halb verzweifelten älteren Beamten richtete: „Na, du bist wohl auch ein bißchen zur Erholung hier?“ Das war kein Witz, ihm war es Ernst mit dieser Frage. Für den Stromer ist das Gefängnis eine Erholung.

Aber das ist die Minderzahl, die andern leiden schwer genug. Und auch hier machen, wie bei den Untersuchungsgefangenen, sinnlose, gedankenlose Grausamkeiten des Reglements das Schwere unnötig schwerer.

Warum darf ein Strafgefangener nur alle vier Wochen einen Brief absenden und empfangen? Ausnahmen sind statthaft, müssen aber in jedem einzelnen Fall erbeten werden, ihre Bewilligung ist ungewiß.

Warum darf er nur ein Bibliotheksbuch in der Woche bekommen? Gewiß, er soll arbeiten, aber, wenn er seine Arbeit getan hat, warum soll er da nicht lesen dürfen? Da sitzt er nun mit einem Kriegsecho, einem Roman von der Mahler oder gar einem jener elenden Traktätchen, die ein völlig verlogenes Hirn geschrieben haben muß, und liest es nun zum drittenmal Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite – muß sein Hirn da nicht revoltieren?

Die lyrischen Dichter haben Unrecht: kein Gefangener in einer preußischen Strafanstalt darf, das Gesicht gegen die Stäbe seines Gitters gepreßt, dem Zuge der Wolken nachschauen oder sein Herz an Baumwipfeln erfreuen. Das Reglement verbietet das. Zum ersten ist sein Fenster aus geripptem, milchigem Glase, durch das kein Gegenstand zu unterscheiden ist, dann aber darf er gar nicth auf sein Bett klettern und oben durch den freien Raum des Klappfensters spähen. Das wird streng bestraft. Ich habe selbst erlebt, daß ein Gefangener für diese Sünde mit drei Tagen schweren Arrests belegt wurde. Fluchtversuche werden mit schwerem Arrest bestraft. Die Beschädigung von Bibliotheksbüchern wird mit schwerem Arrest bestraft. Unbegründete Beschwerden werden mit schwerem Arrest bestraft.

Was schwerer Arrest ist? Eine Zelle im Keller, 1,80 m lang und breit, der meiste Raum wird von einer Holzpritsche eingenommen. Wasser und Brot. Keine Bewegungsmöglichkeit. Keine Wärme. Am zweiten bis dritten Tag hat sich der Gefangene schon wund gelegen, das Frostgefühl verläßt ihn nicht mehr.

Strafe? Ja, Strafe, er hat ja aus dem Fenster gesehen.

Hier scheint das Mißverhältnis so groß, daß ich beim Schreiben zögere. Sätze fallen mir ein, die ich von Beamten gehört habe: „Frieren sollt ihr ja.“ – „Es soll ja eine Strafe sein.“ – „Es soll ja schwer sein.“

Ich verstehe nichts mehr.

Wie ist das eigentlich? Jemand wirft in der Betrunkenheit ein paar Scheiben ein und prügelt eine Frau: neun Monate Gefängnis. Jemand schlägt aus Eifersucht seine Liebste tot: acht Jahre Zuchthaus. Jemand bittet einen anderen um zehn Pfennige: sechs Wochen Gefängnis.

Ich werde eifrig, ich beginne zu rechnen: sechs Birnen weniger sechs Aepfel, was macht es? Ah, ich beginne zu begreifen, Strafe, Bestrafung, das ist etwas Ueberliefertes, etwas, von dem längst der Sinn verloren ging. In der Kirche singen sie ja auch Lieder und sagen Gebete auf, ohne daß sie sich etwas dabei denken: der Sinn ist verloren gegangen, die Einrichtung besteht noch.

Wer denkt an Sühne, Reue, Buße? Wird es gut, bist du wieder der Alte, wenn du nach neun Monaten frei wirst? Gar nicht.

Heute ist es so, daß es gewisse Spielregeln gibt. Man kann sie außer acht lassen, dann muß man bezahlen mit acht Jahren oder neun Monaten, je nachdem. Fünf Mark sind auch nicht das Buch, das du dafür kaufen willst, Geld und Buch sind etwas ganz Verschiedenes, aber unter gewissen Umständen sind fünf Mark eben doch das Buch.

Eine der ersten Fragen, die der Strafgefangene an den Ankömmling richtet, lautet: „Hast du auch etwas davon gehabt?“ Er will wissen, ob du deine Ware fürs Geld bekommen hast, denn er hat gelernt, daß man auch unwissentlich die Spielregeln verletzen kann. Doch nur von der wissentlichen Verletzung hat man etwas. Er grinst über das Gerede von Strafe, Reue, Besserung. Das ist es ja gar nicht. Und er hat sicher recht. Man gibt Geld für das Buch, man gibt Lebenszeit für die Tat. Alles andere ist unwahres Gerede, diese kalte, klare Tatsache zu umnebeln.

Darüber sei man sich klar. Und ist man so ehrlich, so grenze man auch den Begriff Strafe reinlich ab. Sie ist eine Freiheitsberaubung mit Arbeitszwang. Alles andere lasse man fort. Was soll das, daß der Gefangene keine Briefe schreiben soll? Er soll keine Ablenkung haben, zur Besinnung kommen, Reue verspüren? Glaubt man, daß ausgerechnet der Gefangene dazu da ist, das Rätsel von Gut und Böse zu lösen oder von der Willensfreiheit des Menschen?

Das ist alles Unsinn. Auch hier Reinlichkeit. Dies und dies ist deine Strafe, sonst nichts, damit ist es gut (Damit ist es noch lange nicht gut.)

III.

Ein toller Unfug wurde in unserer Strafanstalt mit der Bewährungsfrist (B.-F.) getrieben. Nehmen wir ein Beispiel: ein Gefangener, der eine halbjährige Strafe zu verbüßen hat, tritt an. „So,“ wird ihm gesagt, „Sie sind noch nicht vorbestraft? Führen Sie sich nur gut, dann können Sie nach der Hälfte der Strafzeit B.-F. bekommen.“

Der Gefangene hat erwartet, an dem und dem Tage entlassen zu werden, nun hört er, daß es vielleicht ein ganzes Vierteljahr früher sein kann. Nur drei Monate, wenn er sich nur gut führt? Er wird sich schon gut führen! Drei Monate, das scheint ihm nichts, übermorgen, denn er war ja auf sechs Monate eingestellt. Hoffnung beseelt ih, wann – -?

Er beginnt sich einzuleben, er begreift, daß drei Monate im Gefängnis eine endlose Zeit, daß sie gar nicht gar nichts sind, er schaudert bei dem Gedanken, weitere drei Monate … Er arbeitet bis zu Aeußersten. Nur das Wohlwollen jedes Beamten erwerben. Ein böses Wort kann alles zerstören.

Er ist vereinzelt worden. Die Mitgefangenen sind eine geschlossene Schar, er muß besser sein als sie alle, damit er seine Bewährungsfrist bekommt.

Er beginnt sich zu erkundigen. Es scheint sicher zu sein, daß es zwecklos ist, ein Gesuch um B.-F. einzureichen, ehe er die Hälfte seiner Strafzeit verbüßt hat. Früher gestellte Gesuche werden erfahrungsgemäß abgelehnt. Aber dann kann er ja sein Gesuch erst nach Ablauf eines Vierteljahres stellen? Wie lange dauert die Beantwortung? Vier Wochen? So können im also im besten Falle nur zwei Monate geschenkt werden, vielleicht nur sechs Wochen, vielleicht gar nur ein Monat?

Er gibt sich auch damit zufrieden. Er hat gelernt, daß ein Monat eine endlose Zeit ist, er wird auch damit zufrieden sein. Er verdoppelt seine Anstrengungen. Er ist glücklich, wenn er einem Beamten eine Gefälligkeit erweisen kann. Er belauert die anderen, um Ungehörigkeiten melden zu können, sich als der Vertrauensmann zu beweisen, der er sein muß, um eine Befürwortung seines Gesuchs durch die Anstaltsleitung zu erreichen.

Das weiß er auch so schon, wie wichtig die für ihn ist. Von den andern erfuhr er, daß die Gerichte ganz verschieden mit der Zubilligung von B.-F. verfahren. Manche sind „freigebig“ damit, andere, die Mehrheit, lehnen es ab, immer. Wenn dann sein Gesuch von der Anstalt befürwortet ist, geht es trotz der Ablehnung durch das zuständige Gericht an das Ministerium weiter. Das entscheidet dann.

Und wie lange dauert das? Man zuckt die Achseln. Man erzählt ihm lächelnd den Fall, daß ein Gefangener ein Gesuch einreichte. Es wurde befürwortet, vom verurteilenden Gericht abgelehnt, es ging ans Ministerium. Da lag es. Es kam keine Antwort, Das Gesuch wurde vergessen. Nach Monaten reichte der Gefangene – er hatte eine lange Strafe zu verbüßen – ein zweites Gesuch ein. Dieses Gesuch hatte sofort Erfolg, der Gefangene wurde entlassen. Als er schon Wochen auf freiem Fuß ist, trifft die Antwort des Ministers auf das erste Gesuch ein: das Gesuch ist abgelehnt. Verzweiflung der Leitung: was soll man tun? Der Entlassene ist zu Unrecht frei und zu Recht frei, er hat B.-F. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist, es scheint dies eine juristische Frage mit immerhin menschlichem Hintergrund zu sein.

Schließlich ist unser Beispiels-Gefangener so weit, daß er die Hälfte seiner Strafe verbüßt hat, er wird beim Sekretär vorgeführt, sein Gesuch wird aufgenommen und er bittet demütig darum, es zu befürworten. Das ist es, er bittet demütig. Es wird ihm zugesagt. Er dankt, aber er ist nicht sicher, daß es auch wirklich geschieht. Er durchschaut schon dies System. Er erlebt an jedem Montag, wenn die Kolonnen zur Außenarbeit abrücken, die Ansprachen des Anstaltleiters. Er hat gemerkt, je höher bestraft der Gefangene, je aussichtsloser seine Sache ist, umso größere Hoffnungen werden ihm gemacht. „Führe dich nur gut, mein Sohn.“ Der Gefangene soll abgehalten werden, einen Fluchtversuch zu machen.

Und trotzdem er dies durchschaut, trotzdem glaubt er daran. Denn sein Fall liegt auch anders wie die andern, nicht wahr, sein Fall ist ein ganz besonderer Fall.

Aber es ist auch gefährlich, grübelt der Gafangene, zu rüchtig zu sein. Dann ist man unentbehrlich, wird ungern fortgelassen, solch Gesuch wird gar nicht befürwortet. Und dann hat die Leitung ja auch ein Interesse daran, den Gefangenenbestand möglichst hochzuhalten. Seit die Strafen der Inflationszeit größtenteils verbüßt sind, ist der Bestand der Gefängnisse teilweise unter 50 v. H. der Normalbelegung gesunken. Das hat Beamtenentlassungen, Zusammenlegungen etc. zur Folge. Nein, sicher ist es mit dem Befürworten ganz und gar nicht.

Schon nach ein paar Wochen nach der Stellung seines Gesuches ist eine Antwort da. Der Gefangene soll angeben, wo er in der Zwischenzeit seit Begehung seiner Tat gearbeitet hat. Der Gefangene ist Beamter, Angestellter; man wird also an seinen früheren Arbeitsstellen anfragen, wie er sich dort geführt hat. Er hat schon so schwere Sorgen, wie er nach der Entlassung Arbeit bekommen wird, nun sieht er es beinahe unmöglich werden, da das Gericht so eifrig für Bekanntwerden seiner Verschuldung sorgt. Nach Verbüßung der Strafe wird erst die wahre Schädigung beginnen.

Vielleicht bekommt der Gefangene dann schließlich sechs Wochen B.-F. zugebilligt. (In den meisten Fällen nicht.) Aber wie oft hat er unterdes die Stunde verflucht, da er von dieser B.-F. hörte. Er kam her, er hatte sich mit sechs Monaten abgefunden. Dann machte man ihm Hoffnungen, er lebte die ganze Strafzeit darin. Es waren peinigende, quälende Hoffnungen. Sie zwangen ihn zu erschöpfender Arbeitsleistung. Sie brachten ihn zur tiefsten, feigsten Demut. Er wurde von den andern isoliert, er wurde ihr Spion, ihr Aufpasser, ihr Verräter. Dann zerstörte man ihm auch noch die spärlichen Aussichten für seine Zukunft.

Man glaubt doch nicht, daß der einzelne Beamte daran Schuld trägt. Der Beamte ist in weitem Maße dafür verantwortlich, daß der Gefangene nicht flieht, sich anständig benimmt usw. Die Behandlung durch die Beamten ist gut. Gewiß, es sind fast nur Subalternbeamte, die zudem im jahrezehntelangen Strafanstaltsdienst stumpf geworden sind. Aber was sie tun können, die Lage nicht unnütz zu erschweren, das tun sie. An ihnen liegt es nicht.

Es liegt an dem System, der Gesamtheit des Strafvollzugsdienstes, längst ein toter Körper, versteinertes Gerippe ist. Was vielleicht einmal sinnvoll war, hat längst seinen Sinn verloren. Und es ist zwecklos, an dieser Leiche Kuren zu versuchen. Man sehe doch, wie ein an sich menschlich gewolltes Gesetz, wie das über die B.-F. sich in sein Gegenteil verkehrt, häßliche Quälerei wird.

Tot ist tot, ein anderes muß werden.

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