Rudolf Braune – SA auf dem Lande

Bericht, Tagebuch, Heft 15, 1932

Die Stadt lebt, wie fast alle Nester im Siegerland, von der Kleineisenindustrie.

Der Sommer brachte eigentlich nur zwei große Skandale. Einer passierte nicht im Ort selbst, sondern eine gute Stunde ab in einem Kirchdorf. Dort protestierten eines Sonntagmorgens während des Frühgottesdienstes die frommen und patriarchalischen Bauern durch grelle Pfiffe gegen ihren neuen Pfarrer, der im Auftrag der Diözese Paderborn die Stelle seines zwangsversetzten Vorgängers, eines „Armenpastors“, wie die Bauern sagte, einnehmen sollte. Die unbeugsame Entschlossenheit der strenggläubigen Bauern hätte sich nie so schroff manifesiert, wenn nicht die regelmäßigen Zwangsversteigerungen ihren rebellischen Geist geweckt hätten.

Die zweite Sensation endete mit dem Selbstmord des Sparkassenrendanten, der 14000 Mark unterschlagen und verwettet hatte.

Ein dritter Skandal wird allerdings schon nicht mehr als solcher empfunden: Sechsundachtzig Prozent der Arbeiter und Angestellten in der Stadt sind arbeitslos! Es ist so, es war so, und es wird immer so sein … Und weil es so ist, hat das Nest auch eine SA. 224 Arbeitslose, fast durchweg jüngeren Jahrgangs, sind in ihr organisiert und bilden eine feste, kasernierte Gewalt in diesem stillen Landstädtchen, das mit seinen 9000 Einwohnern, der stillgelegten Industrie und dem kommissarischen Bürgermeister nur noch ein Schattendasein führt.

Der Sägwerksbesitzer P. machte den Anfang. Er veranstaltete nationalsozialistische „Sprechabende“, in denen jeder Arbeitslose außer der ideologischen Kost eine Essenskarte erhielt, die in der Kantine des P.schen Werkes eingelöst werden konnte. Zu jener Zeit arbeitete das Sägewerk des Herrn P. noch voll und hatte einen roten Betriebsrat. Aus der Gemeinde dieser Sprechabende bildete sich die erste Sturm-Abteilung. Ihre Mitglieder waren vor allen Dingen auf solche Expeditionen scharf, die dem Schutze nationalsozialistischer Veranstaltungen in Nachbarorten galten. Die SA.-Mitglieder erhielten da, außer der freien Lastwagenfahrt natürlich, ein gutes Abendessen und 2,50 Mark „Handgeld“. Hinzu kamen, als nicht zu unterschätzender Anreiz, die romantischen Begleiterscheinungen dieser Fahrten, die gleich irgendeiner Expedition in unerforschtes Land gefahrvoll und abenteuerlich waren. Sowohl die „roten Wegelagerer“ als auch Polizeitrupps gehörten zu jener Kategorie von Feinden, mit der eine friedliche Verständigung Zeitverschwendung gewesen wäre. Überfälle, Durchsuchungen nach Waffen, Spitzelriecherei, Beschießungen im Dunkeln, Messerstechereien belebten nach getaner Tagesarbeit im Sägewerk des Herrn P. die friedlichen Abendstunden der SA. Mußte in fremden Ortschaften der Versammlungsschutz übernommen werden, so marschierte die Abteilung militärisch-exakt auf, leicht nach Muschkotenduft, Rindslederfett und Kasernenhofluft riechend; und wenn dann nationalsozialistisch begeisterte Jungmädchen Blumensträuße warfen, erlagen die marschierenden und Soldaten spielenden Arbeitslosen jenem erhebenden und unkontrollierbaren Taumel, der nicht zum erstenmal in der Geschichte die Vernunft getötet hat. Meistens allerdings flogen nicht Blumen, sondern Steine, und auch das gehörte durchaus in den Mythos vom „unbekannten SA.-Mann“.

Inzwischen hatte Herr P. seinen Betrieb zugemacht und die Belegschaft entlassen. Die SA. allerdings mußte weiter verpflegt werden, und weil das in der Kantine nicht mehr ging, kaufte Herr P. eine Goulaschkanone. Die Arbeitslosen kochten selber, Herr P. stellte die Materialien zur Verfügung. Langsam entwickelte sich so in seinem Sägewerk ein richtiggehender Kasernenbetrieb, und der Schritt zur endgültigen Kasernierung der SA. war nicht mehr groß. Im Seitenbau des Sägewerks wurde ein Schlafsaal eingerichtet, mit übereinanderstehenden Feldbetten, Alarmanlage und Spinden. Zu jedem Feldbett gehörte eine Matratze, zwei Decken und ein blau-weiß gewürfelter Überzug. Die jungen Arbeitslosen, deren Eltern fast alle im Dorf wohnten, kehrten von nun an nur noch besuchsweise ins Elternhaus zurück, denn jetzt wurde auch das Sägewerk wieder eröffnet, und die SA. half dabei. Das heißt: Arbeitereinstellungen fanden nicht statt, die SA. alleine schmeißt den Betrieb – als billige Arbeitskraft. Die Jungens erhalten volle Verpflegung, Unterkunft, Ledergamaschen, Manchesterhosen, täglich 2,50 Mark – und ihre Arbeitslosenunterstützung. Sie „helfen“ Herrn P. zehn Stunden im Betrieb – das ist das Neue an dieser ländlichen SA. – und marschieren abends in geschlossenem Zug in die Versammlungen.

Diesem Beispiel des Sägewerksbesitzers P. folgten bald andere Industrielle. So ist die friedliche Kleinstadt heute zu einer „Hochburg“ des Nationalsozialismus geworden. Und so wie hier, sieht’s in tausend Kleinstädten aus.

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