Else Lasker-Schüler – Das erleuchtete Fenster

Erzählung, am 2. Januar 1926 im Berliner Tageblatt abgedruckt

Schon als Schulmädchen standen ich und meine Freundin am Abend mit Vorliebe vor erleuchteten Fenstern und phantasierten Geschichten, die mir heute nie einfielen. Ich weiß nicht, ob alle Kinder gern durch helle Fenster schauen im glitzernden Dunkel wie durch Ostereier und Feenreich. Zu unserer Lieblingsbeschäftigung wenigstens gehörte es, und wir zauberten hinter dem Glas der Abendstunde unvergeßliche Träume. Auf die schwarzmilchige Wupper unserer Heimat starren mysteriöse finstere Häuser aus Schiefer in den schwarzen Simili des Wassers. Diese Arbeiterbaracken mit diesen Gucklöchern hatten uns behext und unsere Sinne gespenstert.

Meine Freundin hieß Martha Schmidt. Ihr Vater war immer freundlich zu uns „Busenfreundinnen“. Er grüßte stets in seinem bartumrahmten Gesicht, auch dann, wenn er über die schlechten Zeiten klagte. Wie Marthas weise Mutter stellte ich mir die Kassandra aus dem Weltgeschichtsunterricht unserer Schule vor. Frau Schmidt prophezeite jedenfalls so sicher wie Trojas Tochter, wenigstens uns beiden sagte sie alles voraus, wenn wir unsere Aufgaben durch unausgesetztes „Ausdemfenstergucken“ kichernd im Galopp zusammen hergestellt hatten. Die Klassiker konnte „Frau Emilie“ so nach dem Schnürchen auswendig, und manchmal fühlte sie sich berufen, uns Mädchen des Altmeisters Iphigenie oder Friedrich v. Schillers Glocke zu deklamieren. Uns rannen die Tränen vor Lachen übers Gesicht, unbemerkt von der in Ekstase sich bäumenden Frau. In ihrer Heimat fiel sie einmal, vertieft im Studium Kotzebues, aus dem zweiten Stock des Hauses auf die erschrockene Straße, worauf boshafte Zeitungen von der gestürzten Literatur berichteten. Martha und ich hatten sie aber beide lieb, sie hatte immer für uns eine kleine Ueberraschung in der Tischschublade, die uns den Schulgang versüßen sollte, denn die Schule war was Schauderhaftes für uns Schwärmerinnen, eine Strafe, die wir zehn Jahre unschuldig abzusitzen verurteilt waren. Ihr zu entrinnen für ein paar Tage, verdankten wir – auf Verabredung – unseren leicht entzündbaren Mandeln und übertriebenen Schluckbeschwerden.

Nachmittags besuchten wir uns heimlich mit verbundenen Hälsen; ich schlich mich, in der Zeit meine Angehöriogen beim Kaffee saßen, aus der Gartenpforte, lief auf Umwegen im großen Katzenbuckelbogen über den Rücken der Stadt zu Martha, die schon auf dem Bettrand angekleidet auf mich harrte. Herr Schmidt meinte, unsere Erkältung komme vom vielen aus dem Fenster gucken in der fröstelnden Abendstunde, nahm seinen silbernen Zahnstocher sorgfältig aus dem Etui und reinigte seine Zähne von den Resten der leckeren Apfelküchelchens, die er, zwischen uns Mädchen sitzend, mit großem Appetit verzehrt hatte. Ich wippte nur immer vom Sitz des Stuhles auf, jedesmal, wenn er zwischen seinen Zähnen zirpte, dazu die Reihe morscher Beißer hinter seinen Lippen wackelten. Er merkte nicht das Geringste von meinem Unbehagen, im Gegenteil, wenn sich seine Tochter über meine Nervosität totlachen wollte, bewog es ihn mit desto freundlicherem Verständnis für mich und seiner Martha gefräßig mit einem verstärkten Pfiff durch die Lücke des riesenlangen Eckzahns zu schnalzen, als ob er alle unsere Geheimnisse wisse und sie mit uns bewahre hinter seiner peinlich gestärkten Hemdenbrust. Wenn der große Baum auf dem Hof seines Hauses recht fest und saftig im Laube stand, bedauerte Vater Schmidt jedesmal nicht ein Kälbchen zu sein.

Ich und Martha aber verschwanden nach dem Abendbrot in ihrer Eltern Schlafkämmerchen. Von dort beobachteten wir das erleuchtete Fenster vom gegenüberliegenden Hause, Schulter an Schulter gelehnt. Hinter den Seidengardinen, in Wirklichkeit einem Gewebe aus Zwirn, wohnte ein indischer Prinz, für den wir beide lebten mit unseren elfjährigen Feenherzen, von dem wir beide fabulierten, bis wir rücksichtslos auseinandergetrieben wurden. Manchmal aber schlief ich bei Martha die Nacht. Sie lieh mir dann eines ihrer Nachtkleider. Sie war kleiner als ich, und es reichte nur für mich bis zum Knie, und ich schämte mich dann jedesmal im Traum vor dem exotischen Königssohn in Prachtgewändern und Turban. Gewöhnlich aber kam vorher mein Papa in seiner donnernden Gangart, eine ganze Schwadron, die enge Straße fluchend heranmarschiert und pflanzte sich vor Marthas Elternhaus schmetternd auf. Und wenn es mitten in der Nacht war, ich mußte aus süßem Schlummer ohne Erbarmen mit nach Hause kommen! Dafür aber steckte er meine kleine Hand in seine große Manteltasche, aus der ich mir einen Meerrettichbonbon oder einen gläsernen Kragenknopf, oder von seinen Spielsachen den buntgeringelten Kreisel holen durfte.

Als der Zirkus Renz in unserer Stadt mit seinen Reitern und Reiterinnen, fünfundzwanzig Riesenelefanten, vierzehn Kamelen, einem Albinodromedar, einem Schimpansen, sechzig Araberpferden, Zebras, dressierten Löwen, einer Giraffe, Clowns und dem hervorragenden August einzog, war der Königssohn vergessen. Die bisher nie dagewesenen Wasserschaustücke, Elfenballetts bewunderten wir schon an allen Säulen auf den bunten Plakaten. Seitdem versuchten Martha und ich jeden Abend meinen Vater in seinem Bureau zu bewegen, mit uns in den Zirkus zu gehen. Wir empfanden „ihn“ in schneeweißem Haar dennoch wie unseren Spielgefährten. Er konnte den Abend, seitdem Renz am Brausenwert seinen Zirkus aufgeschlagen hatte, „es selbst nicht erwarten“, und er lauerte auf uns zwei Kinder schon wenn es dämmerte. Aber jedesmal ließ er sich wieder von neuem von uns drängen und quälen, und oft kletterten wir ihm bis aufs Dach des von ihm neuerbauten Aussichtsturmes nach.

Wir hatten uns nämlich hoffnungslos in „Joy Hodgini“ verliebt, namentlich ich, ja, er war mein Ideal, meine allererste, wahre Liebe. Auf seinem goldblonden Lockenkopf den steifen Filzhut aus der Stirn lässig in den Nacken gestülpt, dazu schmachtende, schwarze Augen, ein gepudertes, übernächtiges, englisch geschnittenes Antlitz. – so begegnete er mir allein zum ersten Male auf der Königstraße. Ich rannte zu meiner Freundin! Mit ihr gemeinsam und mit der ganzen 7. Klasse, die ihn schon längst entdeckt hatte, trabten wir hinter den bezaubernden Jockei her, der sich ab und zu umwandte und uns gnädig mit seiner schmalen Hand – Kußhände – zuwarf. Man denke: schwarze Augen und goldblonde Haare! Täglich um 12 Uhr begann vom Start des Schulhofes das Wettrennen; und doch – liebte er mich nur – was mir Martha heroisch zugab. Seitdem weigerte ich mich, meinen Ranzen weiter auf dem Rücken zu tragen, dafür hielt ich immer eine aufgeblühte Rose von unserem Trauerrosenstrauch für „ihn“ aufrecht in der Hand, bis Martha sie mir eines Tages aus den Fingern entschlossen riß und die wartende Blume dem Joy zu Füßen warf, auf mich weisend: Von Else Schüler.“

Es war sein holdes Lächeln, da wir ihn Traumbild nannten, um immer unauffällig von ihm sprechen zu können, und auch wo er wohnte, hatten wir Schlauberger herausgekriegt, und es erfüllte uns mit Stolz, Zeuginnen zu sein, wie er sich hinter dem erleuchteten Mondsteins seines Fensters die rote Krawatte band in allerlei Variationen. Wir promenierten auf Fußspitzen vor seinem Hause auf und ab, bis einmal seine Schwester Nelly, die Seiltänzerin, mit meinem ältesten Bruder, der in Joys Schwester verliebt war, sich am Fenster zeigten und uns beiden Freundinnen mit Odeur bespritzte, nach dem wir noch Tage dufteten, und das uns kennzeichnete.

Das dritte erleuchtete Fenster aber war ein großes Bogenfenster gewesen im Treppenhaus, vom Treppenhaus unserer Flur aus gesehen, über unsere Gasse hinweg in einem fremden Birnengarten. Mit Allerleifurcht blickte ich durch den mysteriösen Bogen, dahinter ein altes Mütterchen, die Wäsche der Familie des Hauses wusch. Aber ich verwandelte die greise Wäscherin in einen Wunderrabbiner, von dem ich erst vor einigen Jahren ein Büchlein schrieb, in dem die Juden einen sicheren Palast Ihm bauten, dessen Kuppel Ihn schütze vor Ungemach. Vierteljahrhundert gährte diese Dichtung in meinem Herzen, wurde ein Weinberg, alter, spanischer Wein, sternenjährige Judenrede. Mit der Kunst ist es nämlich wie mit dem Rebensaft. Je länger sie im Gewölbe des Herzens, im Schlauch der Ader ruht, desto tiefer und erfüllter ihre Blume sich entfaltet. Meiner teuren Mutter, die ich, seit sich mir das Bogenfenster offenbarte, abends auf dem Weg zum Schlafengehen lange zu umklammern pflegte, erzählte ich mit großaufgetanen Augen das Geheimnis des erleuchteten Glases. „Du bist ein Dichterin“, sagte meine Mutter. Und daß sie nun tot ist, und nicht leibhaftig teilnehmen kann am gedeckten Mahle meiner Verse, betrübt meine Seele. Sie ist im Himmel und wenn Abendbrot ist, suche ich nach ihr hinter dem erleuchteten Granat des Wolkenfensters. Es ist Nacht geworden.

Mir fällt einer meiner Freunde ein, für den ich von jeher große Sorgfalt hegte; denn schon als Kinder spielten wir mit Murmeln in der Gasse, schaukelten auf den Wiesen auf kreuz und quer übereinander gelegten Brettern, schlitterten über zugefrorene Gossen, als die Welt noch hinter frischer Gaze lag, als es noch erleuchtete Fenster gab. Wir wanderten auf ein solches Wunderfenster zu, ampelgedämpftem müden Glase. Mit dem Anblick seiner ehemaligen Schulfreunde, zwei Pharaonen, gedachte mein Begleiter mich zu überraschen. Erwartung schärfte unseren Widerstand gegen den scharf gerüsteten Winterabend. Es wird Ihnen nicht leid tun, aufgeharrt zu haben!“

Doch Amenophis noch Tut en Chaom entstiegen ihren Sarkophagen. Die gehobene Stimmung aber, die uns unser Warten kredenzte, genossen wir aus der Schale des Mondes. Die unerfüllte Erwartung vor einem beleuchteten Fenster befestigt das Herz und füllt es mit Ewigkeit. Nur ein Polizist darf nicht kommen, selbst ein liebenswürdiger nicht, wie die Polizisten heute zu den Gentlemen der Straße zählen. Der damalige trug einen Mantel aus Schneeflocken, zwei gebogene Eiszapfen konservativ über der Oberlippe schneidig und sagte: „Es ist Winter, – merken Sie das nicht?“ –

Dem fünften Fenster veranke ich noch neben dem Glücke meine Fertigkeit im Bergsteigen, und fehlte nie unter den Sternen, die auf den See blickten; das Glück hob mich himmelhochjauchzend empor. Die Gipfel lüfteten ihre Schneeturbane vor meiner Liebe. Sieben Wochen allabendlich säumte ich vor dem erleuchteten Kristall eines Felsennestschlößchens und dichtete Worte, unaussprechliche, wie das blaue Wasser im Tale Wellen sprudelt und zerfließen läßt im Schaume.

Ich dichtete zum erstenmal Gedichte, die ich nicht niederschrieb und von der Kraft der Dichtung trennte. Nicht festhielt, ängstlich mit dem Stahl fesselte, der Nachwelt Kunstgeschichte zu dienen. Und die Gedichte an „Ihn“ werden nie den Tod erleiden, vergilben zwischen Leihbibliotheken, mit dem Menschen verfaulen, der vom Weltall abbrach. Wenn ich auch den Namen des von mir mit unsterblichen Versen Beschenkten hinter dem heiligen Kristall niederschreiben würde, ich stotterte doch nur zufällige aneinandergereihte Buchstaben.

Aber als ich von seinem erleuchteten Fenster hoch im Gebirge Abschied nahm, sang ich, wenn ich auch nicht singen kann, ein altes Lied, das man in der Ebene vergessen hat: „Auf den Höhen blüht die Liebe, die Liebe …“

Es gibt keine erleuchteten Fenster auf unserem Erdteil mehr, weil keine glühenden Herzen mehr pochen, es lohnt sich darum kaum weiter zu leben, und ich habe aufgegeben, nach erleuchteten Fenstern mir die Augen auszugucken.

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