Roman, Societäts-Verlag Frankfurt am Main, 1930
Welches Buch greift als erstes die Verelendung der Angestellten zu Beginn der Weltwirtschaftskrise thematisch auf? Was unterscheidet Braunes Roman von Hans Falladas „Kleiner Mann, was nun?“
Erna Halbe, 19 Jahre alt, Kind einer Arbeiterfamilie, kommt aus der mitteldeutschen Provinz nach Berlin, um eine Stelle als Stenotypistin in der Eisenverwertungs AG anzutreten. Direkt vom Anhalter Bahnhof aus macht sie sich auf die Suche nach einer Bleibe für sich und gewinnt erste Eindrücke von Berlin, die so gar nicht mit ihren Vorstellungen übereinstimmen, die sie sich in ihrem Heimatdorf von der Hauptstadt gemacht hat.
Es ist das Berlin der aufkommenden Krisenjahre, in denen grenzenloser Reichtum und bittere Armut so dicht beieinander liegen, die Stadt ist laut und hektisch. Und auch in den Büroräumen der Eisenverwertungs AG brummt es wie in einem Bienenstock. Nach und nach lernt man die Mädchen kennen, mit denen Erna arbeitet und von denen sie bald als hilfsbereite und fröhliche Kollegin geschätzt wird.
Dann soll eines der Mädchen, Trude Leußner, entlassen werden. Angeblich wird sie den Arbeitsanforderungen nicht mehr gerecht. Tatsächlich versucht sich Direktor von Lortzing, von dem Trude ein Kind erwartet, der persönlichen Verantwortung zu entziehen. Erna und Erika Trümmer, die Leiterin der Schreibstube, fordern die übrigen Mädchen auf, ihre Arbeit niederzulegen, um gegen die Entlassung zu protestieren. Obwohl bei vielen Mädchen Ängste vorherrschen, folgen alle dem Aufruf. Die Solidaritätsaktion erreicht ihren Höhepunkt, als Erna als Rädelsführerin entlassen wird und Trude nach einer versuchten Abtreibung ins Krankenhaus eingeliefert werden muss.
Dem Streik begegnet die Direktion mit der Entlassung aller Mädchen. Erst nach dem Tod von Trude werden die Stenotypistinnen wieder eingestellt. Lediglich Erna Halbe bleibt außen vor – allerdings muss ihr die Eisenverwertungs AG ein volles Monatsgehalt zahlen.
Die Verelendung der Angestellten zu Beginn der Weltwirtschaftskrise wird zuerst von Siegfried Kracauer aufgegriffen. Der Journalist veröffentlicht ab dem 8. Dezember 1929 im Feuilleton der „Frankfurter Zeitung“ seine Studie „Die Angestellten“. Die Serie – Beobachtungen Kracauers, Dokumente, Essays, Protokolle von Arbeitsgerichtsprozessen, Kommentare – ist so populär, dass sie bereits im Frühjahr 1930 als Buch veröffentlicht wird. Kurt Tucholsky schreibt in der „Weltbühne“: „Auch wenn man mich nun für verrückt erklärt: das Buch ist gerade in der heutigen Zeit hoch aktuell. Kracauer legt dar, dass die Angestellten, sprich das Kleinbürgertum, politisch heimatlos sei. Und das mache es anfällig für politische Heilslehren.“
Diese politische Heimatlosigkeit der Angestellten ist auch in Hans Falladas Kleiner Mann, was nun? zu sehen. Wohl kein anderes Buch macht die Angst und Verunsicherung der Kleinbürger zu Beginn der Weltwirtschaftskrise so spürbar wie Falladas Roman, der am 10. Juni 1932 im Ernst Rowohlt Verlag erscheint. Mit den Sorgen und Nöten der Familie Pinneberg konnten sich viele identifizieren – „Kleiner Mann, was nun?“ wird ein Welterfolg.
M. M. Gehrke äußert sich in seiner Besprechung für „Die Weltbühne“ im November 1932 folgendermaßen: „Die Pinnebergs haben keine Tendenz, keine Parteiinteressen und nicht so viel Sinn fürs große Ganze, daß er der Wichtigkeit ihres noch so nichtssagenden Privatlebens gleichkäme oder gar sie überträfe. die Pinnebergs wollen, da sie das geistige Obdach verloren haben, wenigstens ihre Ruhe, ihre Arbeit, bescheidenes, aber sicheres Auskommen, eine ganz kleine Aufstiegsmöglichkeit, ein bißchen Natur- oder Kinoromatik, ihr Lämmchen und ihren Murkel. Die Pinnebergs sind keine klassenbewußten Proletarier und werden es auch niemals werden. Aber: sie existieren. Sie existieren genau so gut wie ihre Widersacher und sind genau so daseinsberechtigt. Sie werden nicht aussterben, da sie unsterblich sind wie der menschliche Urtrieb nach Beharrung und Sicherheit.“
Anders als die Pinnebergs ist Rudolf Braunes Titelheldin eine politische Person. Erna Halbe setzt sich gegen Missstände und Ungerechtigkeiten zur Wehr und ruft ihre Kolleginnen zur Arbeitsniederlegung auf, um gegen eine Entlassung zu protestieren. Letztendlich ist sie die einzige, die entlassen wird. Sie muss scheitern – sporadische Rebellion hat keine Aussicht auf Erfolg. Aber ihr Verhalten auch in der Niederlage beeindrucken stark.
„Das Mädchen an der Orga Privat“ erhält auch in der bürgerlichen Presse wohlwollende Kritiken. Ein Achtungserfolg, große Verkaufszahlen erzielt dieser der Neuen Sachlichkeit zuzuordnende Roman nicht.
Das Buch, lange Zeit nur antiquarisch zu beziehen, wurde im Frühjahr dieses Jahres vom Berliner Jaron Verlag neu aufgelegt. Die Lektüre lohnt!