Ein Erlebnis mit dem Nobelpreisträger Thomas Mann
Unbekannte Autorin, veröffentlicht im UHU, Ausgabe Januar 1930
Vor vielen Jahren las ich in einer großen Berliner Tageszeitung eine sehr ausführliche und lobende Besprechung über den Roman eines noch unbekannten Schriftstellers, die mich zum Kauf des Buchs reizte. Bei Amelang überreichte man mir auf mein Verlangen zwei dicke Bände und forderte dafür zwölf Mark.
Das war für damalige Verhältnisse ein ungewöhnlich hoher Preis. Aber ich hatte es nicht zu bereuen: dieser Roman wurde zu einem Erlebnis und zu einem uneingeschränkten Genuß.
Als ich dem Herausgeber des Romans, mit dem ich befreundet war, zu der Herausgabe dieses Buches gratulierte, dankte er erfreut, bemerkte aber humoristisch, daß ich bisher wohl die einzige Käuferin des teuren Buches sei, und daß er mich zum Dank mit dem jungen Schriftsteller bekannt machen wolle.
Wenige Tage später ging ich mit den größten Erwartungen in das gastliche Haus des Verlegers. Ich hatte mein schönstes Abendkleid angezogen, aus orangefarbenem Crèpe Georgette mit hellgelben Spitzen. Der Wirt stellte mir einen jungen, sehr wohlerzogenen Mann in gut sitzendem Smoking und einem nach englischer Mode geschnittenen Bärtchen vor – es war der Dichter. Dann gingen wir zu Tisch, an meiner Linken der Verleger, rechts von mir der Dichter, dem keine Tischdame zugedacht war.
Es gab Bouillon in Tassen. Alle löffelten, und man hörte nur vereinzelt sprechen. Dann reichte man Fischragout aus Seezungenfilets mit Hummerscheren und Weißweinsoße. Die Unterhaltung wurde allgemeiner; ich schielte aber immer seitwärts nach dem Dichter, der ganz in sein Ragout vertieft schien, nachdenklich wie ein Feinschmecker, den Kopf ein wenig zur Seite gebeugt dasaß, schweigend und genießend. Aber er sagte nichts.
Jetzt fühlte sich der Verleger verpflichtet, ihm einen kleinen Anstoß zu geben und sagte:
„Diese junge Frau ist die erste Käuferin Ihres Romans, lieber Freund; sie hatte den Mut, zwölf Mark dafür zu bezahlen, und sie sagt, daß sie es nicht bereut.“
Aber bevor der Dichter etwas dazu sagen konnte, reichte ihm ein Bedienter den Braten: einen doppelseitigen Kalbsrücken, mit Gemüsen garniert. Er würdigte den Braten und jedes einzelne Gemüse. Zuletzt nahm er von der künstlerisch aufgeschichteten Niere. Und nachdem er einige Bissen gegessen hatte, sagte er seine ersten eindrucksvollen Worte: „- delikat – wirklich delikat – und besonders die Niere.“
Dieser fragmentarische Abend bei dem Verleger beschäftigte mich noch lange, und seitdem mochte ich das orangefarbene Kleid nicht mehr leiden.
Viele Jahre sah ich ihn nicht wieder.
Aber eines Tages war er unter den Gästen eines Fünf-Uhr-Tees, zu dem ich geladen war. Ich hatte ihn eben erkannt, da kam er auch schon auf mich zu und sagte:
„Gnädige Frau, wie freue ich mich, Sie nach so vielen Jahren wiederzusehen. Es war doch ein zu netter Abend damals bei meinem Verleger. Ich erinnere mich noch an das bezaubernde Kleid, das Sie trugen – ein apfelsinenfarbiges Kleid mit Spitzen, die wie Zitronen dazu paßten. Ja, ich habe es nicht vergessen.“
Ich glaube, ich wurde ganz rot vor Freude, und um mich nicht zu verraten, erwähnte ich sofort das vorzügliche Essen von jenem Abend.
„Das war in der Tat ein vorzüglicher Kalbsrücken“, stimmte er mir bei, „nicht zu vergessen die köstliche Niere, um die man beim Kalbsrücken gewöhnlich betrogen wird.“
Titelfoto: Buddenbrookhaus
© die Lübecker Museen, Foto: Thorsten Wulff