Else Lasker-Schüler – Von Mutter und Vater

Erinnerungen, veröffentlicht in der „Weltbühne“, Ausgabe vom 8. Mai 1924

Lang ists her, da ich auf dem Schoß meiner teuern Mutter saß und sie mit mir spielte. „Einwortsagen!“ Einwortsagen nannten wir geheimnisvoll ein Spiel, das meine Mutter, eine Weile wenigstens, von meinen Quälereien befreite.

Ich langweilte mich nämlich immer so …

Meine Mutter rief wichtig: „Schokolade“, und ich erwiderte ein sich darauf reimendes Wort. Meine Mutter: „Tinte“, ich: „Finte“ (Flinte), „Paul“ – „faul“, bis mein viel älterer Bruder, der mir seiner Herbheit wegen imponierte, und den ich darum wohl auch „Mann“ nannte, sich einmischte, auf das Wort „hoch“ das ungeschickt reimende Wort „Koch“ wählte und ich zu ersticken drohte vom dumpfen Schall der Paarung, ja gradezu außer mir geriet, vom Knie meiner besorgten Mutter wild auf den Teppich purzelte. Ich zählte zwei Jahre.

Im vierten lernte ich zum Zeitvertreib von der Gouvernante schreiben. Jedem Buchstaben malte ich ein Tuch um den Hals, da er fror, es war Winter. Fünfjährig dichtete ich meine besten Gedichte; meine Mutter fand immer die bekritzelten Papierflocken, die mir aus meinem Kleidertäschchen beim Herausholen von Lieblingsknöpfen meiner Knopfsammlung entkamen. Die rettete mich vor meinem kleinen Selbstmord. Ich hatte mich bis dahin so gelangweilt, und ich erinnere mich, daß ich entschlossen auf den Turm unsres Hauses kletterte, von dem man über die Stadt Elberfeld hinweg noch hinter dem sauerländischen Gebirge bei lichtem Wetter den Rhein fließen sehen konnte, und auf die Menschen herabschrie: „Ich langweile mich so!“; und erst als die vielen vielerlei großen und kleinen blauen, grünen, lila, roten gelben, weißen Knöpfe ankamen aus der Knopffabrik meiner Heimat, mit denen mich meine teure Mutter überraschte, die meine teure Mutter für mich zum Spielen bestellt hatte, milderte sich beträchtlich mein Uebel. Ich legte Knopf an Knopf, je vier oder fünf, ebenmäßige Reihen in Zwischenräumen auf den großen Tisch und führte dann mein klein Fingerchen über die Knopfreihen der abgeteilten Knopfstrophen. Wenn ich dann durch die Unregelmäßigkeit der Knopfgrößen mit der Fingerspitze stolperte oder gar mit dem ganzen Finger abglitt, schrie ich laut auf, genau wie ich mich heute körperlich verletzt fühle durch einen Vokal oder Konsonanten, der Störungen im Maß oder Gehör undefiniert verursacht.

Aber einer der herrlichen Knöpfe durfte überall liegen, wo er wollte, er war aus Jett, besät mit goldenen Sternlein, und ich staunte ihn an. Er war das Himmelreich meiner Knöpfe und hieß: Josef von Aegypten. So oft neckt man mich mit einem Ausdruck, der sich immer wiederhole in meinen Gedichten. Es ist wahrscheinlich der sternbesäte Knopf.

*

In Elberfeld im Wuppertal, wo meine teuern Eltern so viel Gutes taten, besuche ich alle Jahre die heimatlichen Gräber und wandle durch die Gänge unsres morschen Hauses. Mich besternend betrachtete ich als Kind so gerne das erfurchtsvolle künstlerische Priesterantlitz meines Urgroßvaters, der, Oberrabuni von Rheinlad und Westfalen, in religiösem und politischem Heile seiner Gemeinde Oberhaupt, so weihevolle Jahre Frieden brachte. Die Legende erzählte: Er habe sein Herz aus der Brust nehmen können, was er nach kühlen staatlichen Konferenzen zu tun pflegte, um den Zeiger des roten Zifferblatts wieder nach Gottosten zu stellen.

Mein Urgroßvater liebmütterlicherweits, spanischer Jude, Großkaufmann, Pablo von Elkan, Vater des Vaters meiner jungverwaisten teuern Mutter. Der übersiedelte unter dem in England angenommenen Namen Kissing nach Süddeutschland und pflanzte auf den Bergen Wein. Nahm sich eine Dichterin, die wunderschöne blauäugige Johanna Kopp, die Tochter einer angesehenen bayrischen Judenfamilie, zur Frau. Wir Enkel noch tragen ihren blauen Ehering um die dunkeln Kuppeln.

Von meinem Vater, dessen Tod man in den Zeitungen mit den Worten den Lesern kündete: Der Till Eulenspiegel von Elberfeld ist früh am Morgen gestorben, ehrt es mich, zu berichten, daß er, der vierte Bruder von dreiundzwanzig Geschwistern, sich des Lebens ausgelassenster Laune erfreute in seiner Geburtstadt Hexengäseke zu Westfalen. Dieses kleine Städtchen, berühmt durch seine tiergeschnittenen Hecken, diente meinem Vater zu seinen unsterblichen Streichen. Den letzten, der für ihn hätte ernstere Folgen nach sich ziehen können, absolvierte er in der geistlichen Kaplanstadt Paderborn, wo er das Gymnasium täglich schwänzte. Noch heute spricht man im Biedermeierzimmer der altmodischen Häuser beim Kaffee von der Menschen- und Schinkenknochenaffäre, die dazumal die Einwohner in Schreck und Spannung versetzte, und die nach des Spukes Aufklärung mit Besserungsanstalt oder hoher Geldstrafe für zwei Sekundaner, meinen sechtzehnjährigen Vater Schüler und seinen Freund Pederstein endete, deren Väter weiland wohl oder übel die Sünden der Kinder heimzahlen mußten.

Mit Vorliebe beschäftigte sich mein Vater mit dem Bauen der Häuser, namentlich der Aussichtstürme der Stadt und ihrer Umgebung, die sich immer zu hoch verstiegen, jedenfalls der Nachbarschaft Sorge für Haus und Hof, der Herbststürme eingedenk, verursachten. „Wegen so ein paar verfluchte vermaledeite Ställe bin ich gezwungen, meinem Bau den Kopf abzuschlagen!“ dröhnte meines Vater choranschwellende Stimme frühmorgens durchs Haus. Man vernahm sie schon aus einem andern Viertel der Stadt, die schwamm gradezu auf seinem vollen Bariton. Wir Kinder im Versteck lauschten, noch ungewiß, was sie bringen könnte. Ich mußte mit ihm als sein jüngstes Kind die Gerippe der Neubauten besteigen. Wir bebten zwar beide wie Espenlaub, und einmal erinnere ich mich, wie die Arbeiter auf meines Vaters Kommando zwischen Luft und knarrenden Brettern zwei Fahnenstöcke in Form einer Riesennull bogen und brachen und sie dann oben auf das noch unbefestigte Dach hißten mit einem schwaz-weiß-roten Fetzen daran.

Schon beim Aufwachen beschäftigte die ganze Stadt das wehende Bilanzrätsel, die Null, das mein Vater aber jeden Fragenden, sich schüttelnd vor Lachen, löste op Wupperdhaler Plattdütsch: „Eck hann meck verstiegen, lewe Lüte, fragt nur ming Elsken, eck han verdeck keng Kastmännecken mähr öm Bütel.“

Aber das hat Niemand meinem Vater geglaubt. Er war gezwungen, ein reicher Mann zu sein, bis zu seinem Tode, und nach seinem Ableben bescherte er die Leute mit seinen ihn überlebenden Anekdoten. Damals war noch eine herzliche Zeit. Von den Armen nahm mein Vater keine Mietzins, denn wer in seinem Haus wohnte, der wohnte auch in seinem Herzen. Und ich bin stolz darauf, da mein Vater sich ganz ausgab, kein Heimatloser heimatlos blieb, daß die eigne Tochter für seine Weltherzigkeit zeugt, nicht eine Stube besitzt, gar ein Fleckchen Erde, erbte.

Schwatzsüchtigen wurde es nicht schwer, mich mich allerlei sensationseifrigen Gerüchten zu bekleben, der wollte das, jener dies von mir erfahren haben. Ich flüchtete immer durch die liebevollen Bäume des Waldes, über Wiesen, ich liebe jede Blume – heute eile ich ans Meer, und überall blicke ich nach einem heimatlichen Boden aus. Wer von uns hätte den gefunden und nicht erlitten des Heimwehs qualvollste Angst. Fand ich denn einmal die Heimat – in deinem Auge -, durfte ich auch dort nicht rasten. In der Nacht meiner tiefsten Not, erhob ich mich zum Prinzen von Theben. Welchen Ahnen nachfolgte ich, welche mumie salbte meine entschlossene Tat?

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