Balder Olden – Ein Vagabund von Gottes Gnaden

Jack London – Die Geschichte seines Lebens
Abgedruckt im UHU im August 1927

Mit fünfzehn Jahren, klein, beinahe zierlich, die Lippen sehr weich, die Stirn trotzig, sah er zurück auf eine wohlgelungene Karriere als Gemeindeschüler, Zeitungsbub, Schiffsjunge im Küstendienst, Fabrikarbeiter. Ein paar Leihbibliotheken hatte er schon ausgelesen, viel „trockenen“ Whisky getrunken, viel Geld verdient. Er sparte auf einen Ferienkurs an der Hochschule; aber an der Maschine, die er von halb sechs bis elf Uhr nachts bediente, suchte die Mutter ihn auf, wenn kein Cent mehr im Haus war. Dann gab er alles her, und es wurde nichts aus dem Ferienkurs.

Mit sechzehn Jahren segelte er in der Flotte der „Austernpiraten“. Es war kein Spiel – an Polizeibooten und und Polizeistationen vorbei ging es gegen die Austernbänke, um sie zu plündern. Die Beute wurde schwarz verkauft. Jacks Mannschaft war ein Mädel, die „Königin“ im Kreis der Austernräuber. Die Queen liebte ihn, kochte, flickte.

In den Häfen, wenn die Austern verkauft waren, gab es keine Nacht ohne schwere Besoffenheit. Jack haßte den Alkohol, so gut er ihn scheinbar vertrug.

Aber da er trank, war er ein Mann unter Männern. Er, Captain, der einzige mit einem Mädel an Bord – er mußte auch saufen wie ein Mann.

An seinem siebzehnten Geburtstag, dem 12. Januar 1893, unterzeichnete er einen Dienstvertrag als Leichtmatrose auf dem Dreimast-Schoner „Sophie Sutherland“. Ein Robbenfänger! Es gibt irrsinnig viel Arbeit auf einem Segelschiff, wenn es Fischfang oder Jagd betreibt. Man lernt den Geschwindschlaf, das heißt die Kunst, in zwei Stunden mehr zu schlafen als ein anderer Mensch in sechs. Es gab einen Taifun, gab eine heroische Rauferei zwischen Jackie und dem schwedischen Riesen Red John, hundertzehn Pfund gegen hundertneunzig, in der Jack sich eine geachtete Rolle an Bord erkämpfte.

Aber diese Reise war schön – kein Mann an Bord, der nicht sein Gesicht und seine Geschichte hatte, kein toter Tag. Salzwasser war längst Jack Londons Element gewesen. Aber über den Atlantischen, an den Küsten der japanischen Inseln, in der Arktik wehte doch noch ein anderer Wind als über den kalifornischen Inseln. Jack London wuchs, obwohl er klein blieb, wurde so stark, daß er glaubte, mit seinem Kapital an Muskeln und Gesundheit könnte er hundert Jahre lang haushalten, ohne zu sparen. Er machte ein Zechgelage in Japan mit, bei dem wochenlang kein Matrose nüchtern wurde, stürzte sich schwer berauscht ins Wasser, um viele Meilen weit zu seiner „Sophie Sutherland“ zu schwimmen. Im Mastkorb oder am Steuer, in Nächten voll unbeschreiblicher Stille fing er an zu formen, was seine Augen gesehen und sein Herz erlebt hatte.

Der Weg zur Höhe ging dennoch nicht übers Meer! Ohne Seemannsschule und Examen würde er ewig „vor dem Mast“ fahren, und die Eltern waren überzeugt, daß in ihrem Jungen andere Möglichkeiten steckten. Eines Tages war Jack wieder Fabrikarbeiter. Wie das große Kapital es versteht, einen ehrgeizigen jungen Arbeitsmann gerade in seinem Besten zu packen, in seinem Ehrgeiz nämlich, um an diesem Angelhaken die Kraft, die Vitalität selbst aus ihm herauszuzerren, das muß man in seiner Autobiographie „König Alkohol“ nachlesen, die achtzehn Jahre später geschrieben wurde. Zehn Stunden Arbeit galt da nichts. Er kam auf fünfzehn und sechzehn Stunden, er kam verhungert nach Haus, war zu müde, zu essen, beinah zu müde zum Schlafen. Für zehn Cent die Stunde. Bis er zur Erkenntnis kam: nur das Gehirn macht sich bezahlt, nicht der Körper. Nie wieder auf den Sklavenmarkt der Muskelarbeit!

Dieses eine halbe Jahr Galeere sah ihn trotzdem, den erschöpften, siebzehnjährigen Burschen, drei Nächte lang über Tinte und Feder am Küchentisch. Mit einer Energie, die etwas Titanisches hat, dichtete er zum Preisausschreiben eines Magazins seine erste Skizze „Taifun an der japanischen Küste“ – nur was er als Ruderer im Jagsboot erlebt.

Das Erlebnis war nicht außergewöhnlich für fahrende Leute. Aber der Achtzehnjährige schrieb mit solcher Ehrlichkeit und Sachlichkeit, kurz, ohne Bombast, daß seine Arbeit nicht nur – das war schließlich Zufall – preisgekrönt wurde, sondern daß der Fachmann sie heute noch mit Entzücken liest.

Es blieb einstweilen bei diesem Erfolg, der fünfundzwnazig Dollar brachte.

Heute weiß jeder lesende Mensch, was ein Eisenbahntramp in Amerika tut. Er versteckt sich in einem leeren Gepäckwagen oder kauert sich auf die Puffer eines Pullmannwagens; manchmal liegt er im Gestänge unter dem Waggon, manchmal klebt er auf dem Dach. So geht es von San Francisco nach New York, nach Kanada hinauf und hinunter, nach Mexiko, mit Händen und Füßen ans Leben festgeklammert, bei jeder Kurve in Todesgefahr, von Polizei und Eisenbahnern verfolgt, in Hitze und Frost, bei Tag und Nacht. Die Kilometer müssen verschlungen werden, denn wer in Chicago sein Glück nicht fand, erhofft es bei den Mormonen, und wem die Polizei in Cincinnati auf die Spur des Bettelns kam, der darf hoffen, in Ohio ein paar Tage ungestört fechten zu dürfen. Man weiß das alles: wie allmählich das Fahren selbst zum Sport, zum Beruf, zur Leidenschaft wird, wie der Tramp fährt, um betteln zu können, bettelt, um fahren zu können, wie er am Schienenstrang klebt, als gäbe der Nahrung und Wirklichkeit.

Man weiß es von Jack London, der der Fabrikarbeit entflohen war und als Achtzehnjähriger Tramp wurde, ein kleiner Muskelprotz, sechzig Kilo schwer, mit einem Magen, der rostige Schuhnägel vertrug und lange Hungertage.

Er lernte in einem Jahr Tramping die Vereinigten Staaten kennen, das Mitleid und die Grausamkeit der Menschen, die Unbarmherzigkeit der Gesetze, Hunger und Kälte, Wachtstuben und Gefängnis.

Was er über diese Zeit berichtet hat, kennen wir alle, meist ohne den Namen Jack Londons zu wissen. Es ist übersetzt, nachgedruckt und nachgeahmt worden, so daß eine Zeitlang für uns Europäer der Tramp die einzige wirklich bildhafte Figur der Vereinigten Staaten war.

Mit neunzehn Jahren kehrte er von der Wanderschaft zurück. Er konnte lesen und schreiben, hatte viel von der Welt gesehen und genug gelesen, um zu wissen, daß er nichts wußte.

„Vagabund von Gottes Gnaden“ hatte er sich während der Trampzeit genannt. Aber jetzt galt es andere Vagabundenfahrten als die am Schienenstrang. Jetzt rebellierte in ihm die Sehnsucht nach den Weiten einer geistigen Welt. Das Warum und Wohin – man nennt es Philosophie – bedrängte ihn.

Darüber stand manches in den Büchern, wurde auf den Hochschulen vieles gelehrt, Geschichte und Philosophie, Literatur, Soziologie …

Londons Reisegier wurde zur Wissensgier. Er erzwang sich die Schule und die Bibliotheken. Es war unwiderstehlich, wie er die Vorhöfe der Wissenschaft durchraste, Wissen an sich riß, das im Abiturientenexamen aufzuweisen war. Während er jeden Bissen Brot mit den Händen erarbeiten mußte, bezwang er in zwei Jahren den Lehrstoff einer Oberrealschule.

Drei Jahre später, drei Jahre, nachdem er begonnen hatte, gehörte er zu den bekannten amerikanischen Schriftstellern, war ein führender Mann unter den Studenten von San Francisco, hielt Vorträge, organisierte den sozialistischen Studentenclub. Dazwischen aber lag noch die Reise nach Alaska, wo 1897 Goldlager entdeckt wurden.

Der „Trip“ nach Klondyke, der nur ein paar Monate gedauert hat, brachte zwar nur Strapazen und Gefahren, denen selbst dieser Jack London mit genauer Not gewachsen war, kein Gold. Aber ein neues „Milieu“. Auch diese Welt der goldgrabenden Abenteurer, der in die Arktik abgedrängten Indianer, der Renntiere, Wölfe, Schlittenhunde, des ewigen Schnees, der hellen Nächte, kannte trotz Bret Hart kein anderer Autor.

Hier das Kapital an Erleben, mit dem ein Zweiundzwanzigjähriger, ein Student ohne Garderobe und ohne das mindeste Stipendium, nun die Karriere eines Schriftstellers oder Gelehrten begann: Hafenleben und Küstenschiffahrt in Kalifornien, Segelschiffahrt und Robbenjagd, Tramping in den Vereinigten Staaten, Goldgräberei in Alaska.

Dazu freilich die geniale Begabung, kurz zu schildern, hart, treffend im Ausdruck, mit der Technik des Seemanns, der sein Garn spinnt.

Und Fleiß! Diese Kunst des Schnellschlafens, Unfähigkeit, Zeit zu vergeuden, diese Natur gewordene Spannung, die aus jeder Stunde das Möglichste hervorholt – das gab freilich einen Vorsprung vor allen Konkurrenten, die gelernt hatten, man müsse die Stimmung abwarten, dem Genius zu Willen sein, wenn er sich gnädigst auf dem Schreibtisch niederläßt.

Hundert Zeilen pro Tag. Das wurde sein Programm, als er anfing, die Schriftstellerei zum Beruf zu machen, und dabei blieb es die achtzehn Jahre hindurch, die er noch zu leben hatte. Daneben Studium, Vorlesungen, Korrekturen lesen, sozialistische Propaganda, Korrespondieren – mehr als drei Stunden durften die hundert Zeilen selten in Anspruch nehmen.

Man rechne nach: achtzehn Jahre mal dreihundertsechzig Tage mal hundert Zeilen, und kommt ziemlich genau auf das Resultat von Jack Londons Lebenswerk. Fünfzig Bände sind erschienen, drei weitere Bände, meist journalistischer Arbeit, liegen im Manuskript vor. Es sind Novellen, Romane, Skizzen, alle sauber geschliffen, die von immer steigendem, erarbeitetem Handwerk zeugen.

Im Grunde genommen wurde das Leben dieses amerikanischen Intellektuellen aus dem Proletariat bald dem eines europäischen Literaten merkwürdig ähnlich. Bald wurden Zeitungen, die neueste Literatur, wurden Buchkritiken von ihm oder über ihn, Zeilenhonorare und Lieferungsverträge seine Atmosphäre, als wäre er nie auf den Puffern gereist, vor dem Mast gefahren. Es kam das feingeistige und herzenswarme Judenmädchen, das in der Biographie fast jeden europäischen Künstlers steht, die ihn, seine Arbeit erkannte, sein Gelingen zum eigenen Lebensinteresse machte. Es kam der ästhetische Briefwechsel mit dieser Anna Strunsky, der später als ein philosophischer Diskurs über die Liebe herausgegeben wurde. Die allzu frühe und unglückliche Ehe fehlte nicht, in einer Zeit, die noch voll Sorgen war; für seine materiellen Verhältnisse zu früh gekommene Kinder, die zweite Ehe, der ewige Wohnungswechsel des nervös gewordenen Intellektuellen, die Sehnsucht nach einem eigenen Stück Land, einem bleibenden Heim – und wäre es nur, um einmal seine Bücher alle aufzustellen!

Der Schriftsteller war fertig, aber der Vagabund von Gottes Gnaden nicht tot. Ein Telegramm aus New York: „Wann können Sie reisefertig sein für den Bürgerkrieg in Mexiko?“ und die Antwort: „Bin morgen reisefertig.“ Dazu eine Eintragung ins Tagebuch: „Es fehlen noch fünzigtausend Worte zu meinem Roman, aber das Geschäft geht vor.“

1904, dreißig Jahre alt, fuhr Jack London als Kriegskorrespondent in die Mandschurei, lebte im Stab eines Etappen-Generals, hatte ein Haus, Pferde und Diener, und bekam vom Krieg nicht mehr zu sehen als all die andern Kriegskorrespondenten der amerikanischen und europäischen Blätter. Das aber vertrug er doch nicht, dieser Vagabund, der gewöhnt war, seinen Stoff höchst eigenhändig und unmittelbar auf den Schlachtfeldern des Lebens zu sammeln. Ganz erschüttert kam er zurück, schämte sich des „Stoffs“, den er von Etappenplätzen aus geschickt hatte, und schwur sich: Nie wieder Kriegskorrespondent!

Das Erdbeben von 1906, das San Francisco zerstörte, traf Jack London in Oakland bei San Francisco. Auch von seinem Eigentum wurde vieles zertrümmert, rings um ihn war Verzweiflung, eine Panik, wie sie furchtbarer selten eine Region getroffen hat. Aber das wichtigste waren ihm doch die zweitausendfünfhundert Worte, die „Colliers weekly“ telegraphisch verlangte, ein Vierteldollar pro Wort.

Während eine nach Charmians, seiner zweiten Gattin, Worten „nicht mehr zu steigernde Anarchie“ ringsum tobte, „schüttelte er seine knochigen Schultern frei von allem ringsum und sprang noch am selben Tag in den Fünfundzwanzig-hundert-Wort-Artikel. Noch warm von seiner Hand, fing ich die beklexten Zettel und tippte sie rasch …“

Das Honorar von fünfundzwanzig Cents pro Wort blieb Jack Londons Rekord. Aber er ließt sich nie wieder tief darunter drücken, und im übrigen erschien Buch um Buch in immer wachsenden Auflagen. Gold floß ihm zu.

Er beschloß eine Weltreise auf eigener Jacht, diktierte seiner Zeitschrift Bedingungen, unter denen er ihr seine Segelberichte überlassen würde. (Nicht die Landschilderungen! Nicht die Novellen!) Dreitausend Dollar Beitrag zum Bau des Schiffes à fond perdu. Für den dreifachen Vorchuß wollte er seinem Boot den Namen des Magazins geben. Aber es blieb bei den dreitausend, und der junge Autor fluchte den Herausgeber an: „Hölle noch einmal, jeder glaubt, Sie bauen das Boot für mich, tragen all meine Ausgaben und zahlen mir ein fürstliches Honorar …“

Der ersten Jacht „Snarkk“ folgte 1910 der „Roamer“, größer, reicher an Komfort, mit chinesischem Diener und Koch – aber doch „Roamer“, ein Wort, das ich mit Vagabund der Seele übersetze.

Charmian blieb Londons Reisegefährtin, Lebensgefährtin. Sie sahen Honolulu und die Südsee, Australien, Mexiko von eigenen Planken aus. Immer war der Schiffsherr sein eigener Kapitän, erster Offizier und Schiffsarzt. Immer schrieb er seine hundert Zeilen täglich.

In jeder Hafenstadt hielt er offenes Haus. „Warum sitzen Sie immer zu zwölft bei Tisch?“ wurde er gefragt. „Weil der Tisch nicht für mehr Gäste reicht!“ sagte Jack London.

Manchmal tauchte aus seinen wilderen Wanderjahren ein bekanntes, hartgeschmiedetes, altes Gesicht auf, und dann zeigte Jack, daß er die Kameraden seiner Jugend nicht vergessen hatte.

„Er war schön, heiter, stark wie ein junger Griechengott“, rühmten nach seinem Tod Briefe und Nekrologe.

Ob dies Leben so früh enden mußte, weil aus dem jungen Zecher ein armer Sklave des Alkohols geworden? Sein Bekenntnis zum König Alkohol und gegen König Alkohol ist eine furchtbare Lebensbeichte von Glas zu Glas.

Gegen Ende seines vierten Jahrzehnts war Jack London Gutsbesitzer in Kalifornien, hatte Eukalyptusbäumchen im Zehntausend gepflanzt, hielt schöne Pferde, Hunde, war Besitzer einer Jacht und wußte, daß man in allen Schützengräben, in allen Feldlazaretten, in allen Häusern der Englisch sprechenden Welt seinen Namen, sein Werk, sein Gesicht liebte. Die Zeitungen rissen sich um den Erstdruck seiner täglichen hundert Zeilen, zärtliche Frauen überschütteten ihn mit Briefen, kein junger Dichter zwischen Australien und Alaska, der nicht des Meisters Urteil über seine Erstlinge verlangt hätte. Die Kinder machten ihm Freude, aus zahlreichen Briefstellen dürfen wir annehmen, daß Charmian ihm die Erfüllung einer Frau war.

Trotzdem schwere Depressionen, Schlaflosigkeit, ein Lebenskater in den riesigen Dimensionen, die diesem Leben entsprachen.

Dieser gewaltige und gestählte Körper zerfiel dann in wenigen Tagen.

In ein paar Tagen halber Bewußtlosigkeit zerstörte die Urämie Herz und Hirn dieses groß angelegten Menschen. Man muß es nachlesen in seinem „König Alkohol“, wie der unermüdliche Vagabund der Seele die Emphasen nicht mehr entbehren wollte, die der Rausch ihm gab. Rauschbeschwingt „roamte“ er abermals durch Höllen seiner Jugend, gesegnete Fernen, das Labyrinth menschlicher Süchte.

Er hatte sich tot gewandert, vierzig Jahre alt.

Das Bild zeigt den achtzehnjährigen Jack London.

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