Joseph Roth – Romantik des Reisens

Gedanken, formuliert für das Prager Tagblatt, dort abgedruckt am 9. August 1930

Die Freude, die einer vor einer Reise empfinden mag, ist immer geringer als der Aerger, die sie schließlich verursacht. Nichts ärgerlicher als ein riesiger Bahnhof, der aussieht, wie eine Moschee und vor dessen Eingang ich immer einen Moment überlege, ob ich doch nicht lieber die Schuhe ausziehen soll, statt den Gepäckträger zu rufen. Nichts ärgerlicher als ein eisernes Geländer vor einer vergitterten Kasse. Vor mit schwebt ein Rucksack. Hinter mir stö´t mich ein eiserner Stab, der durch die Oesen eines Strohkorbes gezogen ist. Ich muß mich tief bücken, um dem von aller WElt abgeschlossenen Schalterbeamten mein Fahrziel anzugeben. Er hat nur ein einziges offenes Quadrat, durch das er Geld entgegennimmt und Geräusche. Ich wundere mich immer, daß er nicht lieber mit den Händen hört.

Vom Gepäckträger, der alle meine Koffer hat, weiß ich nichts mehr als eine Nummer. Wie, wenn er keines hätte? Wie, wenn sich ein Doppelgänger fände? Wie, wenn dem Träger was Menschliches zustieße? Mein Freund muß eine Bahnsteigkarte haben, will er mich begleiten. Wozu Bahnsteigkarten? Das Betreten der Geleise ist ja ohnehin verboten. Das Betreten des Perrons muß bebüßt werden. Ein Mann, der den Bahnsteig betritt, um nicht zu fahren, bleibt doppelt zurück. Man könnte ebensogut von allen Karten verlangen, die nur den Bahnhof betreten. Unverschämt hohe Trittbretter führen zu meinem Coupé. Warum nicht gleich Leitern? Man klettert in den Waggon wie auf einen Dachboden zum Wäschetrocknen. Die Abteile sehn aus wie Zündholzschachteln, die auf einer ihrer zwei Reibflächen stehn. Die Sitze sind so raffiniert gebaut, daß zwischen meinen Knien und denen meines gegenübersitzenden Mitreisenden kein Platz mehr ist. Wir können ein Schachbrett auf unseren Knien aufstellen. Wir können die Augen nicht aufschlagen – wir müssen uns sofort ansehn. Haben wir Pech, so sitzen wir zwischen zwei und drei Menschen. Um eine Zigarette aus der Tasche zu nehmen, müssen wir dem Nachbarn den Ellenbogen in die Brust stoßen.

Die sogenannte Musik des Räderrollens empfinden wir als Hammerschläge auf das Kleinhirn und auf die Schläfen. Strecke ich ein Bein aus, so muß ich im nächsten Augenblick die Hose des Nächsten bürsten. Und fortwährend sehn wir einander an; wenn wir Aepfel schälen, Wurst essen, Orangen öffnen. Manchmal spritzen wir uns gegenseitig den Saft südlicher Früchte in die Augen.

Unsere Hände, unsere Kragen, unsere Hemden, unsere Taschentücher werden schwarz. Die Lokomotive schüttelt Ruß auf mein Angesicht. Oft fährt sie tückisch durch sogenannte Tunnels, auf die die ganze Technik stolz ist. Wenn wir ein Fenster öffnen, protestieren die Erkälteten. Sechsmal muß ich um Verzeihung bitten, wenn ich hinaus will. Notsignale sind mit Plomben versehen. Wenn man sie zieht, zahlt man Strafe.

Bei Meinungsverschiedenheiten entscheidet der Schaffner. Immer zu meinen Ungunsten. Wenn ich einen Schlafwagen nehme, teile ich meinen schmalen Verschlag mit einem dicken Herrn. Geteilte Nächte sind halbe Nächte. Man fährt leider nach Geschlechtern getrennt. Ehefrauen müssen erst nachgewiesen werden. Wenn ich Mittag esse, zittern Teller und Kellner, Weinflaschen stehen gefesselt in eisernen Ringen. Wehe, wenn man sie befreit!

Schaffner wechseln oft wie Aprilwetter. Sie zeichnen Striche auf die Fahrkarten. Einfache Striche. Dazu müssen sie mich wecken. Diese kunstlosen Striche (aber selbst Löcher) mache ich selbst ebenso gut. Oberschaffner kontrollieren dann die Striche der Schaffner. Von Gepäcknetzen drohen tödlich schwere Koffer, die ihr Gleichgewicht nicht finden. An Grenzen kommen Zollwächter und rauchen meine Zigarren. In den Korridoren hängen Beil und Säge hinter einer Glasscheibe und gemahnen an Unfälle.

Wenn man ankommt, fällt man über Koffer. Wenn man einen im Gepäckwagen hat, muß man eine Stunden warten. Alle Bahnhöfe sind verschwenderisch weit und hoch gebaut. Aber nur durch ganz schmale Pforten kann man ins Freie kommen. Alle Fahrkarten muß man abgeben. Was macht die Eisenbahndirektion mit all diesen alten Pappendeckeln?

Kein Mensch ist schlimmer dran als ein Reisender. Es ist merkwürdig, daß diese schikanöse Art des Reisens allen so romantisch vorkommt. Unsere Kleider sind zerstört. Heiße Würstchen und kaltes Bier ruinieren unsere Mägen. Wir haben gerötete Augen und fette, schmutzige Hände. Und bei alldem sind wir glücklich!

Im Kino sehe ich manchmal die Salonwagen amerikanischer Millionäre. Sie diktieren Sekretärinnen in die Schreibmaschine. Sie sitzen in Wannen und baden, während sie fahren. Ein Neger frottiert sie, eine Köchin bereitet ihnen Leibspeisen zu. Manche fahren in Salonautomobilen. Sie sind nicht einmal von Schienen abhängig. Manche fliegen in Aeroplanen, kapitalistische Vögel. All das könnten wir auch verlangen. Die Fahrkarten sind teuer genug. Wir müßten nicht auch noch Kinoplätze bezahlen. Unsere Fahrzeuge, die sogenannten Verkehrsmittel, sind weit hinter unserer Zeit zurück. Sie stehn in keinem Verhältnis zu unserem Stolz auf die „Errungenschaften“ und zur Verachtung, die wir für Postkutschen haben. Die Eisenbahnabteile sind den Postkutschen ähnlicher als die Eisenbahnbehörden glauben. Im Zeitalter des Radios knipst man Löcher in Pappendeckel! Die Zeitgenossen des lenkbaren Luftballons schleppen schwere Koffer! Wir erwägen schon Reisen zum Mond. Wir wollen nächstens den Mars besuchen. Wir haben die Relativitätstheorie gefunden. Aber nur, weil wir sie nicht verstehen, haben wir doch keine Veranlassung, auf Hühnersteigen zu schlafen, wenn wir Betten bezahlen.

Die modernen Aeroplane sind schon komfortabler als die Eisenbahn. Wenn ich Aphorismen machen wollte – ich mache keine – würde ich sagen: es ist bequemer, von einem Aeroplan abzustürzen, als mit der Eisenbahn zu landen. Für Zugzusammenstöße gibt es keine Fallschirme. Auch Schwimmgürtel suche ich vergebens auf Lokomotiven …

Mit achtzig Kilometer Geschwindigkeit in der Stunde ist man immer noch langsamer als die Ziet. Die Zeit macht hundertausend Kilometer in der Sekunde. Während ich im fahrenden Zug sitze, laufe ich ihm weit voraus. Das ist der Sinn der Relativitätstheorie. Meine Photographie kann ich in einer Sekunde telegraphisch übermitteln. Mich selbst übermittle ich erst in zwölf Stunden. Wenn ich angekommen bin, sehe ich mir nicht mehr ähnlich. Man kann sich nicht im Zug rasieren. Der Bart wächst schneller, als der Zug fährt. Die Toilette kann man auf Stationen nicht benützen. Während der Fahrt ist sie belegt.

Man sitzt in der dritten Klasse auf Holzpritschen, wie in Kerkerzellen. Wenn einer die Lampe auslöscht, müssen alle schlafen. Zeitungen kann man nicht lesen, weil es finster ist. Wenn das Licht brennt, zittern die Zeilen des Leitartikels. Nur aus Verzweiflung hält man das Feuilleton straff über dem Knie. Wenn man den Kopf zum Fenster hinaussteckt, hat man ihn verloren. Er liegt in einem Brunnen. Wenn man sich gegen eine Tür lehnt, fliegt man hinaus, wie eine Orangenschale. Dabei ist das Hinauswerfen harter Gegenstände verboten.

Jedes „Uebertreten der Vorschriften wird geahndet“. Gepaäckdiebe kann man „zur Anzeige bringen“. Sie sind um keinen Preis der Welt dazu zu bringen. Wer Angaben macht, die zur Eruierung eines Diebes führen, erhält eine Belohnung. Aber wer es einmal versucht hat, weiß, wie schwer es ist, von der Eisenbahn Belohnungen zu erhalten. Im Gegenteil: man muß oft „nachzahlen“. Man bekommt sogar Quittungen. Man kann sie vor den Spiegel in der Toilette stecken. Er ist ohnehin blind.

Das Aufspringen ist verboten. Das Abspringen nur Verbrechern gestattet. Anständige Menschen kriegen die Tür gar nicht auf, es sei denn, daß sie sich gegen sie während der Fahrt lehnen. Kinder sind an der Leine zu halten. Hunde dürfen nicht in den Wagen genommen werden. Aber für redselige Reisende sind keine Maulkörbe vorgeschrieben.

Es gibt Luxuszüge, D-Züge, Schnellzüge, Personenzüge, verschiedene Taxen, verschiedene Klassen, Vorschriften, Hemmungen, Verbote. All das empfindet man „romantisch“.

Dennoch ziehe ich es vor, in einem D-Zug erster Klasse nach Monte Carlo zu fahren als zu Fuß eine Steuererklärung auszufüllen.

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