Aus der Artikelserie „Der Rhythmus von Berlin“
Veröffentlicht in der „Vossischen Zeitung“ am 17. August 1924.
Tauentzienstraße – das Reich der modernen Dame, die immer jung bleiben will – eine Großmuttererscheinung ist hier ungewöhnlich. Das Reich jener Frau, die es entschieden ablehnt, selbst in den Jahren ihrer Reife etwa den alternden Damentyp einer vergangenen Zeit zu repräsentieren. „Das war einmal – passé!“
Stärker als in anderen Stadtgegenden geht von der Weiblichkeit hier – und die Weiblichkeit gibt dem Viertel seine Note – Persönliches aus, weil jede Eigenart zur Geltung zu bringen versucht. Körperkultur, Schnitt der Gewandung, Qualität und Schönheit der Stoffe, verleihen hier selbst an und für sich reizlosen Wesen eine Besonderheit …
Mit jenem kurzen, eigenartigen Schritt, halb Tanz, halb Sportbewegung, geht die Tauentziendame durch ihre Straße, die ganz auf ihre Wünsche, Launen, Sehnsucht eingestellt ist. Wenn sich ein Wagenschlag öffnet – die Märchenkabine eines jener schlanken Luxusautos, die wie Schlangen durch das Gewirr der gewöhnlichen Fahrzeuge gleiten und nur durch ein diskretes Schnarren unvorsichtige Fußgänger warnen – wenn solch ein Wesen aussteigt, einen Laden betritt oder die Steinstufen zu einem Portal hinaufsteigt, hat man den Anfang einer Novelle aus dem Berlin W der Gegenwart.
Ueber den Türen all dieser Läden unsichtbar das Motto: „Der Dame.“ Kristall, Früchte, Blumen, Schuhwerk, Bücher – alles ist nur für sie bestimmt, für sie arrangiert in einer Art, die jedes Stück reizvoll macht. Ihr Blick – nicht der neugierige, lebhafte Blick der Pariserin, sondern der kühle, fremde der Londonerin – bleibt gelassen, ob er eine vorübergehende Männererscheinung streift, edles Pelzwerk hinter einer Spiegelscheibe oder köstliches Porzellan betrachtet. Interessiert wird dieser Blick nur für die „andere“. Eine Nuance zu viel Lippenrot, eine Nuance mehr Indezenz im Kostüm, als es die Mode erlaubt, und jene ist erledigt mit einer Grausamkeit, die nur die Frau für die Frau aufbringt.
Die Männerwelt, wie auf Verabredung unauffällig, zurückhaltend. Zufrieden mit der Rolle des Schaffers und Verdieners für die Geliebte oder die schöne Frau. Gerade nur so viel Eleganz wie nötig, um die Zugehörigkeit betonen zu können. Nur die noch Ungebundenen vertreten den Herrentyp von heute, markieren den „homme à femme“ oder den sportsman.
An schönen Sommerabenden, wenn die Häuser der weniger belebten Seite im letzten Sonnenglanz liegen, die andere schattig-kühl wirkt durch das glänzende Grün der Platanen, die feuchten Rasenstreifen, kommt das Bild der Straße zur höchsten Entfaltung. Dann promenieren diese Menschen – gleich Kindern, die die Lebensfreude egoistisch haschen – genießerisch aneinander vorüber, erfassen in den Schaufenstern Bilder, Blumen, Seidenglanz oder auf der Straße Jugendreiz, Frauenschönheit und an der Bordschwelle elendes Bettlertum.
Und das Begehren – eben vielleicht noch auf edles Gestein oder zierliches Elfenbeinschnitzerei gerichtet – kann sich jäh bunter Blumenpracht aus Bauerngärten zuwenden. Man kauft von einem der runzeligen Weiber an der Ecke einen derben Strauß Astern oder Flor, um ihn daheim auf antiker Truhe vor einem alten Heiligenbild als naiven, frischleuchtenden Farbenfleck unter all den toten Kostbarkeiten eines erlesenen Geschmackes wirken zu lassen. Und wie Kinder, die von ihrer Begier plötzlich überwältigt werden, tritt manchmal solch ein zierliches Rassegeschöpf an einen Fruchtkarren, ersteht ein Paar der roten, schöngeformten Tomaten und kann sich`s dann nicht versagen, sofort in eine dieser herben Früchte hineinzubeißen. Oder sie kaufen, wie einst als „Tauentziengirls“, einen kleinen, bunten Ballon – Kinderspielzeug -, das, noch einmal zu besitzen sie eine Laune treibt die ebenso rasch davonfliegt, wie der Ballon, wenn sie, seiner plötzlich wieder überdrüssig geworden, den Faden vom Finger lösen.
Auf dem Fahrdamm die Hetzjagd der Wagen. Das Autohupengetön schwillt zum mißtönenden Chor, durch den sich das unermüdliche Rufen der Zeitungsverkäufer mühsam Geltung verschafft. Wie etwas unbegreiflich Altmodisches rattert, brutal und rücksichtslos ihren Gleisraum beanspruchend, die Elektrische mit klapperndem Anhängerwagen vorüber – nur ein Hindernis in dieser Gegend des Schnellverkehrs. Und bemitleidenswert die Gäule vor den Droschken, mühsam nach Luft schnappend in den giftigen Gasschwaden aus den Auspuffern der Geschäfts- und Lastautos, die jetzt auf eiliger Heimfahrt begriffen sind.
An der Kirche branden die Verkehrswellen. Da steht sie – nicht mehr dem zierlichen, weißen Marzipangebilde eines Hofkonditors ähnlich, wie in den ersten Jahren ihrer Entstehung. Nein – der Turm ist geschwärzt, das Gestein von der Witterung getönt, sie hat – als Bauwerk- eine imponierende Wirkung bekommen.
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Und hier beginnt der Kurfürstendamm – denn jenes Stück am Zoo entlang bis zum Kanal hat niemals und wird niemals zum Begriff „Kurfürstendamm“ gehören. Dieser Begriff hat im Laufe der Jahrzehnte mehrfach gewechselt. Noch stehen ein paar der alten Eichen – vor vierzig Jahren Sammelpunkt jener mutigen Pioniere, die als Beginn ihrer sonntäglichen Landpartie nach dem Grunewald eine Durchquerung jener „Kurfürstendamm“ benannten Sandwüste beabsichtigten. Und dann bekam dieser Damm seine Häuserkulisse und vertauscht seine Schrecknis mit der Lächerlichkeit – es wurde die Gegend des Protzentums der neunziger Jahre, das stolz war auf die Wohnungen „mit allem Komfort“, mit imitierten Marmorsäulen im Hausflur, dicken Stuckornamenten an der Decke und eingemauerten Geldschränken im Schlafzimmer. „Nur Bankiers und Kommerzienräte wohnen am Kurfürstendamm“, hieß es damals, aber es stimmte nicht. Doch oben in diesen Mietspalästen, höher als die dicken, roten Treppenläufer führten, saß in Bodenverschlägen, die spekulante Hauswirte zu „Ateliers“ ausgebaut, ein zigeunerhaftes Künstlertum. Wildmähnige Maler oder Malweibchen im Reformkleid und genialische Dichter hausten dort, ohne daß die Bewohner der unteren Stockwerke von diesen Insassen ihrer Paläste eine Ahnung hatten, da sich die Bohémiens wie die Mäuschen in der Kirche versteckt hielten und ihre Träume von Ruhm und Glück nur im „Café Größenwahn“ den anderen ins Gesicht schrien.
Und endlich wurde der Kurfürstendamm das, was er heute ist: Die vornehme Prachtstraße, die hier an der Kirche beginnt.
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Noch liegt die Tauentzienstraße im leuchtenden Schimmer des Abendhimmels, da gerät man hier, unter dem Laubendach der Bäume, in ein wundervolles Halbdunkel. Schon schließen die Läden hinter den Vorgärten, schon flammen hier und da bunte Lichter in den Cafés, Weinstuben, Restaurants auf. Aber noch sind die Tische unbesetzt, wartet der Chor der Kellner. Ihre weißen Hemdbrüste leuchten zwischen den Efeuwänden und Palmenkübeln hervor, und die Majestäts-Gestalt des uniformierten Portiers wandelt gemächlich auf der ins Innere führenden, grellroten Bastmatte.
Da sausen die ersten Autos mit Abendgästen heran, und im gleichen Augenblick beginnt eine eine unsichtbare Kapelle zu spielen – geschäftiges Leben kommt in die Kellnerschar …
Eine Stunde später funkeln und glitzern hoch oben an den Häuserfassaden Tausende von Glühbirnen in allen Farben, formen Namen, Programme und Verheißungen. Alle Tische jetzt besetzt, die Geigen klingen in die Dämmerung der Straße, und der Herr Portier muß jedesmal seine ganze Gebietermacht gebrauchen, um Armut und Elend vom Wagenschlag zurückzuscheuchen, wenn die Autos der Nachzügler vor den Eingängen halten.