Egon Erwin Kisch – Regeln meines Mitschülers

Reportage, veröffentlicht im Prager Tagblatt am 18. September 1930

Einmal saß ich zu später Nachtstunde in einem Café auf der Place d’Armes zu Monaco. Am Nebentisch nahm ein Mann mit grauem Spitzbärtchen Platz. Wenn ich sein Alter geschätzt hätte, hätte ich es um zwanzig Jahre höher als das meine geschätzt. Aber ich schätzte weder sein Alter, noch hatte ich überhaupt bemerkt, daß er am Nebentisch saß, sondern ich schrieb an dem Bericht über meine Beobachtungen in Monte Carlo.

Da wandte sich der um zwanzig Jahre älter als ich scheinende Mann vom Nebentisch an mich: „Vous êtes Monsieur Kisch de Prague, n’est ce pas?“ „Oui,“ sagte ich geistesgegenwärtig in fließendem Französisch, obwohl mit diese Erkennungsszene auf der nachmitternächtlichen Condamine beinahe die ‚Rede verschlug. „Du erkennst mich nicht?“ „?“ „Ich war vor 32 Jahren dein Mitschüler auf der Realschule.“ „Ach natürlich,“ beeilte ich mich, mich zu besinnen, „du bist der Horatschek Wladimir, nicht wahr?“ „Der Krebs Josef,“ verbesserte er den Namen ein wenig und, um meine Beschämung vollkommen zu machen, fügte er hinzu: „Ich habe dich schon heute im Kasino gesehen und sofort erkannt.“ „Warum hast du mich nicht angesprochen?“ Er gab keine Antwort. Wir rückten unsere Stühle zusammen und sprachen von der Vergangenheit in Prag und von der Gegenwart in Monte Carlo. Er sei vor dem Krieg hierhergekommen, mit einer Frau, habe gespielt, gewonnen, verloren, und sei geblieben, um wieder zu gewinnen. Jetzt spiele er nicht mehr. „Du sagtest aber, daß du mich heute im Kasino gesehen hast?“ „Ja, aber ich spiele nicht mehr. Hast du gespielt?“ „Ein wenig.“ „Nach einem System?“ „Keine Spur. Nur aufs Geratewohl.“

„Da hast du ganz recht. Es gibt kein System, das ist alles Unsinn. Wenn’s ein System gäbe, stünde die Bude da oben nicht mehr. Alle Welt hat geglaubt, Garcia habe das System – er gewann eine Million binnen vier Wochen. In der nächsten Saison kam er wieder und verspielte die ganze Million mitsamt dem System. Wenn das System ein System gewesen wäre, hätte ihm die Bank 10 Millionen bezahlt und nicht das Viatique, das Abweisegeld. Mit Wells war’s ähnlich.“ Ich gab ihm recht: „Ich glaube, es ist am besten, man schmeißt ein Jeton auf ein x-beliebiges Feld. Hat man Schwein, kriegt man Geld, hat man Pech, so kriegt man eben nix.“ „Nein, nein, “ ereiferte er sich, „das ist Unsinn, was du da redest. So sprechen die Touristen. Die setzen ihre Garderobennummer und wenn sie verspielen, werfen sie dem Verlust den Rest der Jetons nach, nur um wieder aus dem Kasino wegzukommen. Schade um’s Geld. Man muß vernünftig spielen.“ „Du selbst aber hast vor fünf Minuten behauptet, es gäbe kein System.“ „Natürlich gibt’s kein System. Wenigstens keines, mit dem man immerfort die Bank sprengen kann. Aber es gibt Spielregeln. Wenn man sich an sie hält, verschleudert man nicht sein Geld auf einen Sitz. Bei gewissen Regeln muß man sogar kontinuierlich gewinne, wenn auch nur geringe Summen.“ „Na, na!“ „Was heißt: Na, na? Mein Prinzip ist sehr einfach. Sogar du wirst es verstehen, obwohl du der Schlechteste warst beim Mrazek, – Mrazek war unser Mathematiklehrer, wenn du das vergessen haben solltest.“ „Und du warst wohl sehr gut beim Mrazek?“ „Ja, ich hatte immer vorzüglich. Es wat leider meine einzige gute Note. Mathematik verstehe ich.“ „Und deshalb glaubst du an Systeme?“ „Im Gegenteil. Deshalb glaube ich nicht an Systeme. Deshalb glaube ich nur an die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Und ihre Regeln befolge ich, das ist mein ganzes Prinzip.“ „Wie machst du das?“ „Wie ich das mache? Das ist nicht wichtig. Ich mache das überhaupt nicht mehr. Aber ich kenne die Regeln, – das ist wichtig.“ „Und dann gewinnt man?“

„Paß auf, Kisch. Man setzt dreißig Franken auf Manque, auf die niedrigere Hälfte der 36 Ziffern. Kommt eine von den Nummern 1-18 heraus, gewinnt man dreißig Franken, nicht wahr?“ „Ja, und wenn 19 bis 36 herauskommt, so verliert man 30 Franken, nicht wahr?“ „Sehr richtig. Gleichzeitig aber mit Manque hat man auf Dernière Douzaine 20 Franken gesetzt. Du weißt, was Dernière Douzaine ist?“ „Das ist das letzte Drittel der 36 Nummern; die Ziffern 25 bis 36.“ „Und wenn man auf eines der drei Drittel setzt, so kriegt man zweifaches Geld. Fällt also Dernière Douzaine, so hat man für 20 Franken 60 Franken.“ „Fällt aber eines der beiden anderen Dutzend, so verliert man seine 20 Franken.“ „Sehr richtig. Aber da man ja gleichzeitig für die 30 Franken auf Manque 30 Franken gewonnen hat, so verliert man nichts. Sondern gewinnt zusammen 10 Franken. Man setzt also immer 50 Franken und gewinnt immer 60 – ganz gleichgültig, ob Niedere Hälfte oder Letztes Dutzend herauskommt.“ „Und wenn weder Niedere Hälfte noch Letztes Dutzend herauskommt, so verliert man immer 50 Franken.“ „Sehr richtig,“ sagte mein Mitschüler ironisch, „du bist vielleicht gar kein solcher Esel in Mathematik, wie der Mrazek geglaubt hat.“ „Sehr richtig: wenn weder die Niedere Hälfte noch das Letzte Dutzend herauskommt, so verliert man 50 Franken. Aber kannst du mir sagen, welche Nummern zu diesem Behufe des Verlierens fallen müßten?“ „Die Nummern 19, 20, 21, 22, 23 oder 24.“ „Stimmt! Wirklich, der Mrazek hat dein Genie verkannt. Das sind sechs Nummern. Die Chance des Verlierens beträgt demnach nur ein Sechstel.“ „Und außer diesen sechs Nummern kann auch Null fallen.“ „Mit dem Zéro darf man nicht rechnen. Das ist eben das Refait der Bank. Wenn man immer das Zéro einkalkulieren würde, könnte man überhaupt nicht spielen.“ „Meinetwegen. Also: bei sechs Spielen kann man nach deiner Methode 60 Franken gewinnen. Sechs Spiele ergeben aber die eWahrscheinlichkeit, daß darin auch eine Nummer aus dem vierten Sechstel herauskommt, eine Nummer von 19 bis 24. Dann verlierst du deinen Einsatz von 50 Franken.“ „Da ich aber fünfmal zehn Franken gewonnen habe, kostet mich mein Verlust nichts. Erst beim zweimaligen Verlieren innerhalb von sechs Spielen wäre der Einsatz weg. Nun, das müßte schon ein ganz außergewöhnliches Pech sein. Wie du richtig gesagt hast, soll nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine Ziffer des Sechstels innerhalb sechs Spielen nur einmal kommen. Erfahrungsgemäß aber kommt es viel seltener. Ich habe oft stundenlang gespielt, ohne daß auch nur ein einziges Mal das vierte Sechstel herausgekommen wäre.“ „Warum spielst du also jetzt nicht mehr?“ Mein Mitschüler war am Anfang unserer Begegnung ein gedrückter Mensch gewesen. Während der Erklärung seiner Spielweise hatte er sich ereifert, Selbstvertrauen gewonnen, eine überlegene Art angenommen. Jetzt wurde er wieder zu einem Mann, dessen Alter ich um 20 Jahre höher als das meine geschätzt hätte. „Warum ich nicht mehr spiele?“ brachte er zögernd hervor, „ich darf nicht mehr spielen.“ „?“ „Ich bin nämlich Angestellter des Kasinos.“ „Croupier?“ „Nicht Croupier, Angestellter … Und was hast du für einen Beruf, Kisch? Bist du Ingenieur geworden?“

Er lenkte also ab. Und mir fiel ein, wo er mich im Kasino gesehen hatte, ohne mich anzusprechen, selbstverständlich, ich hatte ihn ja auch gesehen, er hatte sich geschämt, mich anzusprechen, es war auf der Toilette gewesen, er, der gute Mathematiker unter meinen Mitschülern, der Spieler mit der verläßlichen Methode, war der „Letzte Mann“ des Kasinos von Monte Carlo. „Nein, ich bin nicht Ingenieur geworden“, antwortete ich, „ich bin Schriftsteller. Ein beschissener Beruf, das kannst du mir glauben.“

Noch lange habe ich an die Begegnung mit meinem Mitschüler denken müssen und an sein kostbares, sieghaft erklärtes System, das nichts weiter bestätigt hatte als die Unbesiegbarkeit der Bank, selbst bei ihrer vermeintlich geringeren Chance. Ihre Räder drehen sich weiter, auch wenn sie noch so oft verliert, und der Spieler wird zermahlen.

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