Marieluise Fleißer – Fegefeuer in Ingolstadt

Volksstück, 1924, Uraufführung am 25. April 1926 an der Jungen Bühne des Deutschen Theaters, Berlin

Welche Autoren haben Marieluise Fleißer beim Schreiben ihres Stückes beeinflusst? Mit den Schauspielen welcher Dramatiker wird Fegefeuer in Ingolstadt von der Kritik verglichen? Wer äußert sich abfällig über das Volksstück?

Roelle liebt Olga. Olga ist schwanger. Von Peps. Der will nichts mehr von ihr wissen und ist mit Hermine zusammen. Clementine, Olgas Schwester, liebt Roelle, und ist eifersüchtig auf Olga. Ihr Bruder Christian hasst Roelle. Crusius erpresst Roelle. Und Roelle bleibt allein, und behauptet, mit den Engeln sprechen zu können.

Was Ihnen zunächst konfus vorkommen mag und – tauschen wir die ungewöhnlichen Vornamen gegen in heutiger Zeit geläufige aus – an das Drehbuch einer RTL-Soap denken lässt, ist eines der sprachgewaltigsten Dramen, das ich kenne.

Marieluise Fleißer verfasst ihr erstes Schauspiel während ihres Studiums der Theaterwissenschaft und Germanistik in München. Das Drama sei „aus dem Zusammenprall meiner katholischen Klostererziehung und meiner Begegnung mit Feuchtwanger und den Werken Brechts entstanden“, äußert sie sich später. Am 25. April 1926 wird Fegefeuer in Ingolstadt (der ursprüngliche Titel lautet Die Fußwaschung) auf Empfehlung Bertolt Brechts – Fleißer lernt ihn 1924 über Lion Feuchtwanger kennen – an der Jungen Bühne des Deutschen Theaters in Berlin uraufgeführt.

Das Stück kommt gut an beim Publikum, Kritiker vergleichen es mit Schauspielen Ernst Barlachs oder Else Lasker-Schülers (dennoch gerät es lange Zeit in Vergessenheit. Erst ab Beginn der 70er-Jahre taucht Fegefeuer in Ingolstadt, für die Neuinszenierungen von Fleißer zweimal überarbeitet, wieder auf den Spielplänen der Bühnen auf).

Das Geschehen dieses Schauspiels in sechs Bildern spielt unter Gymnasiasten während der Ferienzeit in Ingolstadt (Fleißers Heimatstadt). Olga ist von Peps schwanger, der aber Hermine liebt. Clementine, Olgas Schwester, liebt Roelle, den Außenseiter (denn der ist durch einen Kropf entstellt). Roelle wiederum ist in Olga verliebt. Als er erfährt, dass sie eine Engelmacherin aufgesucht hat, versucht er vergeblich, mit seinem Wissen Zärtlichkeiten von ihr zu erpressen.

Roelle gibt vor, mit Engeln sprechen zu können, und wird auf einem Jahrmarkt von den versammelten Leuten mit Steinen beworfen. Er flüchtet zu Olga und deren Geschwistern, bei denen sich auch Peps und Hermine befinden, und wird von den Jugendlichen in einen Wasserbottich getaucht.

Olga gesteht ihrem Vater ihre Schwangerschaft und findet bei ihm kein Verständnis. Sie beschließt, sich in der Donau zu ertränken, und wird von Roelle gerettet. Roelle gibt sich als Vater des ungeborenen Kindes aus, erreicht damit aber nur, dass er nun auch von Olga geächtet wird. Beide sind fortan dem Fegefeuer der Eltern, Mitschüler und Bürger Ingolstadts ausgesetzt. Olga wirft Roelle vor, er habe sie mit zu sich „heruntergezogen“. Er glaubt, eine Sünde an ihr begangen zu haben, ist aber unfähig zur Beichte. Er isst den Beichtzettel auf.

Marieluise Fleißer gelingt es meisterhaft, die Orientierungslosigkeit einer Gruppe von Jugendlichen aufzuzeigen. Sie sehnen sich nach Nähe, Liebe, Freiheit und Anerkennung, doch stehen stets allein da. Nichts gibt ihnen Halt: nicht die Familie, nicht die Religion, nicht die Schule, nicht einmal der Freundeskreis. Wenn diese Anker versagen, können aus jungen Menschen Raubtiere werden. Und so weist dieses Drama eine erschreckende Aktualität auf: ich denke da beispielsweise an den Tod eines 50-jährigen Geschäftsmannes, der seine Zivilcourage mit dem Leben bezahlte; weil er in einer Münchener S-Bahn Jugendliche vor einem Raub beschützen wollte, wurde er von zwei 17 und 18 Jahre alten Gewalttätern so lange brutal getreten, dass er später seinen schweren Verletzungen erlag.

Zusammen mit Ödön von Horváth gilt Marieluise Fleißer als wichtigste Vertreterin des Volksstücks (eines Schauspiels, das sich an das einfache Publikum richtet, oft im Dialekt gehalten ist und Motive des kleinbürgerlichen Alltags aufgreift). Brecht, aus dessen Kreis sich Fleißer 1929 im Streit löst, merkt über das Genre an: „Das Volksstück ist für gewöhnlich krudes und anspruchsloses Theater. … Die Bösen werden bestraft, die Guten werden geheiratet, die Fleißigen machen eine Erbschaft, und die Faulen haben das Nachsehen. … Um in den Stücken zu spielen, muß man nur unnatürlich sprechen können und sich auf der Bühne in schlichter Eitelkeit benehmen.“

Die Ingolstäder Stücke (neben Fegefeuer in Ingolstadt findet sich in dem Taschenbuch auch ihr Schauspiel Pioniere in Ingolstadt – von Brecht angeregt und unter seiner Regie am 30. März 1929 im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin einen der größten Theaterskandale der Weimarer Republik verursachend) erscheinen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3518369036, 8 Euro). Lohnenswert ist ein Besuch der Internetseiten der Marieluise-Fleißer Gesellschaft e. V.

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