Anna Seghers – Reise ins Elfte Reich

Erzählung, in Fortsetzungen veröffentlicht in der „Neuen Weltbühne“, 1939

Für welches Werk erhält Anna Seghers 1928 den Kleistpreis? Wer schlug sie für den Preis vor? Was macht den Schreibstil der Autorin aus?

„Nachdem uns zehn Länder die Einreise verweigert hatten, trotz aller Bürgschaften und Bürgen und Zeugnisse und Empfehlungen, wußten wir keinen Rat mehr und fielen in Verzweiflung.“

Anna Seghers ist eine Meisterin des ersten Satzes. Schon mit wenigen Worten kann sie in die Handlung einführen, den Leser fesseln und ihn ins Geschehen hineinreißen. Diese Kunst zeigt sich bereits in ihrem Erstling, der Novelle Der Aufstand der Fischer von St. Barbara, die 1928 im Gustav Kiepenheuer Verlag erscheint und für die Anna Seghers auf Vorschlag von Hans Henny Jahnn den renommierten Kleistpreis erhält. In „Reise ins Elfte Reich“ ist trotz der Knappheit der Sprache die verzweifelte Lage von Menschen, die gezwungenermaßen ihr Heimatland verlassen mussten, schmerzhaft spürbar.

Gefunden habe ich Seghers‘ Erzählung in der dreibändigen Anthologie „Exil“, die von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft im Herbst herausgegeben wurde. Das Werk ist eine Fundgrube für alle, die sich für die deutsche Exilliteratur interessieren. Erstmals veröffentlicht wurde „Reise ins Elfte Reich“ 1939 in Fortsetzungen in der „Neuen Weltbühne“, einer Exilzeitschrift, die bis Ende August 1939 in Frankreich produziert werden konnte.

Das Bild zeigt die 3 Bände "Exil" - im Exil geschriebene Texte von deutschsprachigen Autorinnen und Autoren.

Verweiflung ist das eine Gefühl, das die Exilanten in Seghers‘ Erzählung beherrscht, Hoffnung ist ein weiteres. Und diese Hoffnung wird bereits im zweiten Satz genährt, als die Wir-Erzähler einen Bekannten treffen, der ihnen einen Rat gibt. „Es gibt noch ein elftes Reich, das soll noch Leute hineinlassen unter gewissen Umständen.“ Die Flüchtenden erhalten von ihm noch die Adresse des Konsulats.

Von nun an geraten sie von einer skurilen Situation in die andere. Die Flüchtenden können tatsächlich ins Elfte Reich einreisen – allerdings nur diejenigen, die keine Papiere mehr haben und sich nicht ausweisen können. In der Hauptstadt des Landes werden sie „mit Liedern und Fahnen und Blumen“ empfangen und lernen später sogar den Staatspräsidenten kennen. Die Kinder der Exilanten werden eingeschult und haben die Hefte der Lehrer zu korrigieren – Primus ist der, der die meisten Fehler im Heft des Lehrers entdeckt.

Eine Satire auf die damals herrschenden Verhältnisse im nationalsozialistischen Deutschland.

Als Wir-Erzähler führt Anna Seghers durch ihre Erzählung. Weder werden einzelne Personen der Gruppe benannt, noch macht sie Angaben zur Gruppengröße. Sie erschafft Anonymität, gleichzeitig kann sich der Leser mit dem Schicksal der Gruppe identifizieren.

Im Gegensatz zu vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die im Exil weitgehend verstummten, schrieb Anna Seghers kontinuierlich weiter. Es scheint, als sei sie in dieser Zeit sogar produktiver gewesen als zur Zeit der Weimarer Republik. Bedeutende Werke werden von ihr geschaffen, beispielsweise ihre Romane „Transit“ und „Das siebte Kreuz“.

„Man hat uns nun einmal von klein an angewöhnt, statt uns der Zeit demütig zu ergeben, sie auf irgendeine Weise zu bewältigen“, heißt im Schlussabsatz ihrer Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“. Anna Seghers hat ihre Zeit im Exil genutzt. Die deutsche Exilliteratur wäre ohne ihre Werke um Vieles ärmer.

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