Erzählung, veröffentlicht in der Zeitschrift „UHU“ im September 1927
Nachts in einer schäbigen Kneipe, in der dampfigen Masse halbbetrunkener, lustiger Leute, erzählte mir einmal ein noch nicht alter, aber vom Leben bereits gründlich zerknitterter Mann folgendes:
„Ins Unglück hat er mich gestürzt, der Telegraphist Malaschin.“
Er ließ seinen Kopf mit der zerknüllten Jockelmütze sinken, blickte unter den Tisch, schob sein krankes Bein mit den Händen zur Seite und seufzte langwierig und heiser auf.
„Der Telegraphist Malaschin, jawohl. Seine Ehrwürden bei uns pflegte ihn den tölpelnden Jüngling zu nennen, die Mädchen aber – Malascha. Er war klein, gedrungen, mit rosa Wangen, braunen Augen, dunklen Brauen und weiblich-zarten Händen; ‚wie gemalt‘ nennt man das Aeußere solcher Burschen. Lustig und mit allen gemütlich, war er sehr gerngesehen und vielleicht sogar beliebt in unserem Städtchen, wo dreitausendfünfhundert Einwohner ohne Hast die üblichen menschlichen Verrichtungen pflogen. In meinem zwanzigsten Lebensjahr durchdrang mich die Langeweile des Lebens bis zu völliger seelischer Ermattung; diese krabbelnde, stille Geschäftigkeit der Leute ärgerte, ja, sie ängstigte mich sogar: ich konnte in den Sinn dieser Geschäftigkeit nicht eindringen, blickte auf alles voller Zweifel und schrieb plötzlich im Drange des Gefühls eine Erzählung ‚Wie die Menschen leben‘. Schrieb sie hin und schickte das Manuskript an die Wochenschrift ‚Niwa‘ in Petersburg. Harrte sodann der Schicksalsentscheidung eine Woche, einen Monat, zwei Monate und winkte schließlich mit der Hand ab: offenbar waren solche Sachen für uns nicht zu machen, fertig!
Doch nach drei Monaten oder noch mehr treffe ich einmal Malaschin:
‚Ich habe‘ – sagte er – ‚eine Postkarte an dich bei mir.‘ Er gibt mir die Postkarte, und darauf steht:
‚Ihre Erzählung ist langweilig geschrieben, und man kann sie keineswegs als gelungen bezeichnen, doch scheinen Sie immerhin Anlagen zu besitzen. Schicken Sie gelegentlich noch etwas ein.‘
Ich will nicht beschreiben, wie sehr ich erfreut war. Malaschin erzählte mir freundschaftlich, daß die Postkarte bereits den dritten Tag bei ihm herumliege. ‚Zufällig‘ – sagte er – ‚griff ich sie auf der Post auf, um sie dir abzugeben, aber vergaß es dann immer. Also du‘ – sagte er – ‚du schreibst Erzählungen: willst wohl so eine Art Graf Tolstoi werden?‘
Wir lachten und trennten uns. Doch bereits an demselben Tage abends rief mich der Diakonus vom Fenster aus auf meinem Heimwege an:
„He, du, Schriftsteller! Ich w- werde dich …!“
Und zeigte mir die Faust. In all meiner Freude legte ich dieser drohenden Geste keine Bedeutung bei.Ich wußte, daß der Diakonus ein phantastischer Mensch war: In seiner Jugend strebte er danach, Opernsänger zu werden, ist aber nie weiter als zum Dirigenten des Kirchenchors gekommen und vermochte in der Provinz keine Karriere zu machen, da er an einer Neigung zu handgreiflicher Aktionsfreiheit laborierte. Er trank, und wenn er betrunken war, zerklopfte er – auf Wette – Walnüsse mit seiner Stirn, konnte ganze Pfunde von Walnüssen zerklopfen, so daß schließlich die Kopfhaut zu platzen begann. In seiner Tasche trug er ständig ein Blechkästchen mit Luftlöchern: sommers für Frösche und im Winter für Mäuse, damit er diese Tierchen im gegebenen Moment den Damen hinter die Kragen praktizieren konnte. Diese Scherze wurden ihm verziehen um seines heiteren Naturells willen und auch noch darum, weil er ganz ungewöhnlich tief in den Charakter der Fische eingedrungen und ein fabelhafter Angler war. Doch selber aß er keine Fische, aus Angst, an einer Gräte zu ersticken, und verschenkte daher den Fang an seine Bekannten, was deren Liebe zu ihm wesentlich erhöhte.
‚Nun also‘ – sagte ich mir froh. Ich war damals ein bescheidener Jüngling von nachdenklichem Wesen und äußerlich nicht gerade schön.“
Mit den Lippen drückte er sein spärliches, farbloses Schnurrbärtschen an, zwinkerte mit dem gelblichen Weiß seiner langweiligen Augen und schenkte sich mit zitternder Hand sorgsam ein Gläschen Schnaps ein. Mit zwanzig Jahren war er wahrscheinlich ungeschickt und knochig gewesen; seine grauen, aufgewirbelten Haare waren damals wohl rötlich, seine trüben Augen blau. Und sicher hatte er viele Sommersprossen im Gesicht gehabt. Jetzt waren seine welken Wangen dicht mit einem komplizierten Muster roter Aederchen gezeichnet, und die bläuliche Trinkernase hatte sich wehmütig über den Schnurrbart gesenkt. Der Schnaps vermochte ihn bereits nicht mehr anzuregen. Er murmelte mit Anstrengung und wie im Schlafe:
„Ich fühlte mich plötzlich als schöner Kerl, als bedeutende Figur. Und wie denn nicht: hatte ich doch ‚Anlagen‘ seltenster Qualität! Meine Seele trillerte auf wie eine Lerche. Ich fing grausam an zu schreiben, ich schrieb ganze Nächte durch, die Worte strömten nur so aus der Feder. Eine Freude! Und ich bemerke, daß die Einwohner auf mich ganz besonders aufmerksam zu blicken anfangen, Aha, denke ich mir …
Malaschin lud mich ein zum Akzisebeamten, und der hatte eine Tochter, so eine quecksilbrige junge Dame. Na, und dann waren da noch andere junge Leute. Sie interessierten sich für mich, sie fragten:
‚Sie schreiben, wirklich? Bitte – hier ist Tee! Mit bestem Zucker!‘
Oho, denk‘ ich mir, sogar mit bestem Zucker?! Ich rühre mit dem Löffelchen um, ich schlucke – was ist das? Salzig. So salzig, daß es schon geradezu bitter schmeckt. Zum Uebelwerden. Aber immerhin: ich trinke, aus angeborener Bescheidenheit. Und auf einmal fangen alle im Chor zu lachen an, und Malaschin lacht auch und sagt:
‚Wie ist denn das? Ein Schriftsteller muß doch alle Dinge gut unterscheiden können, und du kannst nicht einmal Salz von Zucker unterscheiden; wie ist den das?‘
Ich werd‘ verlegen, und schrumpfe in mich zusammen; äh, denke ich …
‚Das ist doch natürlich ein Scherz‘, sagte ich.
Aber da lachten sie noch mehr. Darauf begannen sie mich zu überreden, daß ich Gedichte rezitieren sollte, denn ich hatte auch versucht, Gedichte zu schreiben. Malaschin wußte das. Alle redeten auf mich ein:
‚Wenn Dichter zu Gast sind, so rezitieren sie immer Gedichte, also müssen Sie schon.‘
Aber da mischte sich der breitmäulige Sohn vom Bürgermeister ein und sagte:
‚Gute Gedichte werden bloß von Militärs geschrieben.‘
Das Fräulein begann nun, ihm zu beweisen, daß er sich irre, und ich ging unterdessen heimlich fort. Und von jenem Abend an begann die ganze Stadt mich zu hetzen wie einen räudigen Hund. Am ersten Sonntag gleich begegnete ich dem Diakonus; er ging mit seinen Angeln und stampfte über die Erde wie ein ungeheuerlicher Elefant.
‚Halt!‘ schreit er. ‚Du schreibst, du Esel? Ich‘, sagt er, ‚habe mich drei Jahre für die Oper vorbereitet und bin überhaupt nicht deinesgleichen, und was bist du denn? Eine Fliege bist du! Solche Fliegen‘, sagt er, ’solche Fliegen punktieren bloß den reinen Spiegel der Literatur, du Luder …‘ Und schimpfte mich derart zusammen, daß es mich sogar kränkte. Ja, wofür denn? denke ich bei mir.
Malaschin aber brüllte bei Begegnungen auf der Straße:
‚Guten Tag, Herr Dreiviertel-Graf-Tolstoi!‘
Dann dichtete er ein ganz dummes Liedchen, und die Jugend der Stadt fing es bei meinem Anblick jedesmal an zu singen.
Ach, denke ich, da ist der Käfer unters Rad gekommen!
So sehr haben sie mich geneckt, daß ich mich nicht auf die Straße traute. Besonders der Diakonus war fuchtig geworden, man mußte bloß aufpassen, daß er nicht zu prügeln anfing.
‚Ich,‘ brüllte er, ‚ich habe drei Jahre … und du Taugenichts …‘
Manchmal saß ich dann nachts am Flusse und dachte nach:
Ja, was ist denn das? Wofür nur, wofür?
Am Flußufer gab es eine einsame Stelle, eine kleine Landspitze mit Erlengebüsch; dort habe ich mich oft hingeschlichen, blickte auf den Fluß und mir war, als ob dieses dunkle Wasser, das erst die Stadt durchspült, danach durch meine Seele fließe und in ihr einen trüben, bitteren Bodensatz hinterlasse.
Ich kannte da ein junges Mädchen, eine Goldwirkerin; ich bemühte mich um sie reinen Herzens und mir schien, daß auch ich ihr angenehm sei. Allein auch sie begann, das Gefieder aufzuplustern und fragte mich ganz vorsichtig: ‚Ist es wahr, daß Sie irgendwas in die Zeitungen geschrieben haben über uns, über die Stadt?‘
‚Wer hat Ihnen das gesagt?‘
Darauf senkt sie den Kopf und erzählt:
‚Ihre Schriftstellerei hat Malaschin in Händen und liest sie jedermann laut vor: man lacht über Sie und will Sie sogar durchprügeln, deshalb, weil Sie sich dem Grafen Tolstoi überliefert haben. Warum haben Sie dem Malaschin Ihre Schriftstellerei abgegeben?“
Unter mir begann die Erde zu schwanken; o Gott, o Gott, denke ich. Dort ist bei mir von jedem die Rede; vom Akzisebeamten, vom Diakonus und von allen – und zwar nicht sehr lobend. Selbstverständlich hatte ich mein unglückseliges Geschreiben dem Malaschin nicht gegeben, er selber hatte es auf der Post an sich genommen. Und jetzt goß mir meine Liebste noch ein wenig Oel ins Feuer.
„Weil ich mit Ihnen spazierengehe, lachen bereits alle Freundinnen über mich, so daß ich schon selber nicht mehr weiß, wie es nun sein soll …“
‚Ach‘, denke ich mir.
Und gehe zu Malaschin.
‚Gib mir das Manuskript zurück, ich bitte dich!‘
‚Ach, wozu brauchst du es denn?‘ sagt er. ‚Man kennt es doch sowieso schon!‘
Er hat es mir nicht gegeben. Und dabei gefiel mir dieser Mensch; wie ich ja auch bemerkt habe, daß, ebenso wie unnütze Dinge oft angenehmer sind als nützliche, so auch ein schädlicher Mensch uns oft sehr angenehm ist. Und noch ein Beispiel: kein Arbeitspferd ist so teuer wie ein Rennpferd, obwohl die Menschen doch von Arbeit und nicht von Rennen leben.
Es kam die Christwoche, und Malaschin schlug mir vor, mich zu maskieren: er kleidete mich als Teufel an, mit einem Halbperlz, das Fell nach außen, setzte mir Bockshörner auf den Kopf und eine Maske vors Gesicht. Na, da haben wir getanzt und so weiter, mir wurde heiß und plötzlich spüre ich: es beißt mich unerträglich im Gesicht. Ich ging nach Hause und wurde auf der Straße von drei Masken überholt. Sie begannen zu schreien:
„Ho, ein Teufel! Haut ihn durch!“
Ich – ziehe Leine. Natürlich haben sie mich eingeholt. Geprügelt haben sie mich nicht sehr stark, allein das Gesicht brannte – zum Aufschreien! Was war das nur? Morgens kroch ich an den Spiegel heran: meine Visage scheint unnatürlich rot, die Nase angeschwollen, die Augen sind aufgetrieben und tränen. Na, dachte ich, die haben mich aber verunstaltet! Sie hatten nämlich die Maske von innen mit irgendwas Beißendem ausgeschmiert, und als ich zu transpirieren begann, riß es mir die Haut ab. Fünf Wochen mußte ich mich kurieren, ich dachte, die Augen würden mir entzweigehn. Aber es ging wieder vorüber.
Da wurde mir endlich klar: in dieser Stadt durfte ich nicht mehr bleiben. Und bin ganz leise fortgefahren. Seit der Zeit laufe ich jetzt schon meine dreizehn Jahre herum.“
Er gähnte und hielt die Hand müde vors Auge. Er schien ein Mensch von fünfzig Jahren.
„Wovon leben Sie?“ fragte ich.
„Als Stallknecht, bei den Trabrennen. Ich liefere einem Reporter Material über Pferde.“
Und langsam, gutmütig lächelnd, sagte er: „Was das für edle Tiere sind, die Pferde! Die Pferde kann man mit nichts vergleichen … Nur, sehen Sie, hat eines mir den Fuß zerschmettert …“
Und seufzend setzte er leise hinzu, wie eine kostbare Gedichtzeile:
„Jenes, das ich am liebsten hatte …“