Erzählung, abgedruckt in der Sonntagsausgabe der Vossischen Zeitung am 24. April 1932
Auf der Tauentzienstraße drängt sich ein schmaler junger Mensch – Windjacke, barhaupt, blonder Schopf – eilig durch die Menge. Und stößt dabei, nicht eben sanft, einen brünetten Jüngling in Paletot und steifen Hut an. „Flegel!“ ruft der empört. Der Eilige dreht sich blitzschnell um und bleibt stehen. „Was haben Sie da gesagt?“ fragt er drohend. „Was bin ich?“ – „Das haben Sie ja gehört“, erwidert der andere kühl mit ein wenig nasaler Stimme. „Was ist das überhaupt für eine Art, einen von hinten anzurempeln? Passen Sie doch gefälligst auf!“ Drei, vier Menschen sind stehengeblieben. Die blonde Mähne sträubt sich. „Passen Sie auf, Sie sind auf der falschen Seite gegangen!“ Der Brünette zuckt die Achseln. „Ach was – lassen Sie mich in Ruhe!“ Aber der Blonde denkt gar nicht daran. „Ich hab‘ nicht nötig, mich von Ihnen auf offener Straße beleidigen zu lassen. Entweder Sie nehmen den ‚Flegel‘ zurück oder …“ Er ballt die Fäuste.
Aus den drei, vier Menschen sind im Nu zwanzig geworden, die mit Interesse die Entwicklung des Streites verfolgen. Der Schwarze schnippt mit einer unnachahmlich eleganten Handbewegung ein imaginäres Stäubchen von seinem Paletot. „Hab‘ ich Ihren Mantel vielleicht auch noch beschmutzt, Sie feiner Hund?“ ruft der Blonde außer sich. „Nehmen Sie zurück?“ – „Ph!“ Der „feine Hund“ schiebt die Melone auf den Hinterkopf, krempelt gemächlich die Aermel auf und geht in Boxerstellung. „Mein Sohn, ich rate dir gut, komm‘ mir nicht zu nahe!“ Eigentlich hat er ein gutmütiges, rundes Komikergesicht; aber wie er jetzt den Unterkiefer vorschiebt, die Augen zusammenkneift, sieht er gefährlich aus. Der Blonde reißt die Windjacke vom Leibe, pfeffert sie auf den Boden. Und da steht er in seiner grauen Sporthose und dem roten Pullover, schlank, gutgewachsen, ein bildhübscher junger Mensch mit blitzenden blauen Augen und wehendem weißblonden Schopf.
Das Publikum hat sich in zwei Parteien geteilt. Die meisten – zumal die Damen – sind auf der Seite des hübschen Jungen. Andere wollen genau gesehen haben, wie er den anderen in der Tat rüde beiseite gestoßen hat. „Ganz recht, wenn so einer mal einen Denkzettel kriegt. Jeden Tag passiert einem das auf der Straße!“ Die Gegner mustern sich. Der Blonde hat finster die Brauen gerunzelt. Der Schwarze lächelt liebenswürdig und maßlos irritierend. „Ks, ks“, macht ein Bengel. Der Blonde geht einen Schritt vor. Im nächsten Augenblick werden sie aufeinander prallen. Da löst sich ein älterer Herr aus der Menge und tritt auf die Kämpfer zu. „Aber, meine Herren“, sagt er begütigend, „lassen Sie doch den Unfug. Hat doch gar keinen Zweck, hier so ein Schauspiel aufzuführen …“
Da ist plötzlich alle Wut aus dem Gesicht des Blonden, alle Ironie aus dem Gesicht des Brünetten verschwunden. Beide lächeln – ach, wie jung sind sie doch noch! – ein bißchen verlegenes Jungenlächeln. Der Schwarze nimmt die Melone ab. Der Blonde schüttelt die Haare zurück und sagt, zum Publikum gewandt: „Wir hoffen doch, daß es einen kleinen Zweck gehabt hat. Wir sind nämlich erwerbslose Schauspieler und – na ja …“ Und dann verbeugen sie sich – der alte Herr, der das letzte Stichwort zu geben hatte, mit ihnen. Und wenn nach Schluß der Vorstellung ein Teil des Publikums sich auch sehr schnell davongemacht hat, so ist doch in der Melone des Brünetten für das genial improvisierte Fünfminutenschauspiel ein Sümmchen zusammengekommen, das zum mindesten zu einem reichlichen Mittagessen für die drei gelangt haben wird!
Zank auf der Straße ist ja eine phantastische Geschichte. Ich habe mal gehört, dass es in Lateinamerika in den Ländern, die Diktaturen sind oder waren, politische Aktivisten genau so etwas gemacht haben um politische Missstände aufzugreifen. Das nannte sich Unsichtbares Theater.
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Das mit dem Unsichtbaren Theater wußte ich noch nicht. Aber auf jeden Fall eine gute Idee. Aufmerksamkeit ist einem sicher.
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