Erzählung, abgedruckt in der Sonntagsausgabe der Vossischen Zeitung vom 10. Januar 1926
I.
Einst war ich bei einem Freunde zu Gast, der mit seiner Frau, ihrer Schwester und drei Söhnen auf einem Gut lebte.
An einem herrlichen Sommermorgen sagte er mir:
„Mein Lieber! Ich muß mit meiner Frau und Schwägerin auf zwei bis drei Tage vereisen. Darf ich dich allein lassen?“
„Wenn du nicht befürchtest, daß ich dir dein Haus anstecke und die Gegend unsicher mache, warum nicht?“
„Darum handelt es sich gar nicht. Die Hauptsache ist: die Miß geht auch mit uns, und ich möchte dich bitten – wenn du – na, kurz gesagt, ich bitte dich, in der Zeit auf meine drei Jungens zu achten.“
„Das verstehe ich wirklich nicht. Ich habe keine Ahnung, wie man mit solchen Knaben umgeht.“
„Ganz einfach! Die drei müssen ihre Aufgaben machen, dürfen keinen Unsinn ausführen, sich aber auch nicht langweilen. Du bist ja ein famoser Kerl!“
„Famos? Nun ja – aber wenn sie mich nicht als Autorität anerkennen?“
„Da sei nicht bange! Das ist meine Sache. Ich bin überzeugt, ihr werdet sehr gut miteinander auskommen.“
Die Kinder wurden gerufen. Drei wohlerzogene Knaben in weißen Matrosenanzügen und gelben Schuhen standen in Reihe und Glied vor mir. Aber freundlich sahen sie mich gerade nicht an.
„Kinder!“ begann der Papa. „Während unserer Abwesenheit bleibt Onkel Mischa hier. Ihr werdet ihm in allem folgen. Daß mir aber die Aufgaben bis zu meiner Rückkehr fertig sind! Es sind gute Jungens, Mischa. Ihr werde euch sehr verstehen. Im übrigen – drei Tage sind ja keine Ewigkeit!“
Einige Stunden darauf rollten alle außer uns Zurückgebliebenen davon.
II.
Pfeifend ging ich in den Park und setzte mich auf eine Bank. Finster schweigend folgte mir das dreiblättrige Kleeblatt.
Wenn ich auch mit Kindern nie zu tun gehabt habe, so wußte ich doch, daß das kleine Volk für Offenheit des Herzens bei Erwachsenen sehr empfänglich ist.
„Aufgepaßt, ihr kleinen Teufel! Jetzt seid ihr in meiner Gewalt. Ich kann euch durchprügeln, euch das Nasenbein entzweischlagen oder euch im Fluß ertränken. Die Kinderlebensversicherungs-Gesellschaft ist weit von hier, und kein Hahn kräht nach euch. – Also – ihr müßt mir gehorchen und euch benehmen wie ein wohlerzogenes Mädchenpensionat. Wer von euch kann auf dem Kopf stehen? Los!“
Dieser plötzliche Umschwung meiner Rede verfehlte seine Wirkung nicht. Waren sie zuerst erschrocken gewesen, so stießen sie sich jetzt verlegen an und beobachteten mich erwartungsvoll.
„Wir … verstehen … können das nicht … stehen … auf dem Kopf!?“
„Traurig genug! Menschen, die das können, schießen stets den Vogel ab. Paßt mal auf!“
Ich zog den Rock aus, nahm Anlauf und – stand auf dem Kopf.
Die Knaben waren begeistert. Dann aber verfinsterten sich ihre Gesichter von neuem – wahrscheinlich dachten sie wieder an den ersten Teil meiner Rede.
Ich überlegte. Die uns trennende Eiskruste mußte mit einem Ruck beseitigt werden.
„Jungens!“ sagte ich ernst. „Ich verbiete euch, in diesen drei Tagen irgend etwas zu lernen. Verstanden?“
Ein Schrei des Staunens, der Freude, der Begeisterung stieg aus drei Kehlen empor. Jawohl! Ich weiß schon, wie man ein Kinderherz am schnellsten gewinnt! Aus ihren Augen leuchtete plötzlich Freundschaft, Verehrung,ja Liebe zu mir. Sie kamen näher heran.
Eigentümlich, wie Kinder alles, was mit Mathematik, Geschichte usw. zusammenhängt, verachten. Unter Tausenden gibt es vielleicht – nein es gibt keine einzige Ausnahme.
Verzeihung! Ich weiß doch eine. Da war ein kleines Mädchen mit roten Bäckchen. Ging ich an ihrem Fenster vorbei, so las sie immer in einem großen Kinderbuch, ja ihre Augen hatten, vielleicht vom zu langen Lesen, jeden Ausdruck verloren, und sie war so ungebildet, daß sie nur „Papa“ und „Mama“ sagen konnte, und das auch nur, wenn man sie auf die kleine Brust drückte. Dies und das Kunststück, im Liegen die Augen zu schließen, machte ihren ganzen Wert aus, der übrigens sieben Rubel und fünfzig Kopeken betrug – so stand wenigstens auf einem Stück Papier an ihrer Brust geschrieben.
Ich wiederhole, dies gelehrte kleine Mädchen ist die einzige Ausnahme, und das auch nur durch die Phantasie des Verkäufers.
Also: den mir anvertrauten Knaben wurde alles Arbeiten und Lernen aufs strengste verboten. Zum erstenmal habe ich mich hierbei überzeugen können, daß das Sprichwort „Verbotene Früchte schmecken am besten“ nicht stimmt, denn meine drei Helden rührten tatsächlich in diesen drei Tagen kein Buch an.
III.
„Jetzt wollen wir so leben, wie es uns behagt,“ schlug ich vor. „Was habt ihr am liebsten?“
„Rauchen!“ sagte Wanja.
„Nachts im Fluß baden,“ erklärte Grischa.
„Mit der Flinte schießen!“ piepste der achtjährige Lela.
„Warum habt ihr denn das so gern, ihr verfluchten Lausers?“
„Weil es uns verboten ist!“ antwortete der Aelteste. „Rauchen Sie?“ und er zog eine Zigarettenschachtel aus der Tasche.
„Wie alt bist du denn?“
„Zehn Jahre und sechseinhalb Monate.“
„Woher hast du das Kraut?“
„Beim Papa geholt.“
„Sich so was ‚holen‘ ist dumm und eine Sünde, um so mehr, als dein Vater ein schreckliches Kraut raucht. Da du die Zigaretten mal hast, wollen wir sie auch rauchen.“
Wir wälzten uns im Grase, qualmten und plauderten gemütlich von Hexen und Räubern. Ich erzählte und überließ die Einwohnerzahl von Nord-Amerika und andere dergleichen gelehrte Sachen der Erzieherin.
Nachdem auch von Spul auf dem Stallboden gesprochen war, trat Schweigen ein. Es wurde ganz still …
„Sag’s ihm doch,“ flüsterte der dicke, faule Lela seinem Bruder zu.
„Sag‘ du es selbst oder Wanja,“ war die leise Antwort.
„Ich schäme mich.“
Scheinbar handelte es sich um meine Persönlichkeit.
„Was flüstert ihr da eigentlich, Kinder? Raus damit!“
„Von Ihrer … Geliebten,“ sagte Grischa mit einer vom Rauchen ganz heiseren Stimme. „Von Tante Elise.“
„Was kohlt ihr da, ihr dummen Jungens?“ Aber verlegen wurde ich doch. „Wie könnt ihr nur so einen Unsinn schwätzen!“
„Sie haben sie doch gestern im Saal, als Papa und Mama im Garten waren, geküßt.“
Ich mußte hell auflachen.
„Woher wißt ihr denn das?“
„Wir? Ich lag mit Lela unter dem Sofa, und Grischa steckte hinter der Gardine. Sie nahmen Tantens Hand, rissen sie an sich und sagten: ‚Gekiebte, ich habe wirklich ganz ernste Absichten!‘ und die Tante verdrehte den Kopf – so – und lispelte „Ach! Ach!“
„Dummes Frauenzimmer!“ meinte einer von ihnen.
„Was wollt ihr mir denn von ihr erzählen?“
„Wir haben schrecklich Angst, Sie würden sie heiraten. Das wäre ein sehr großes Unglück!“
„Warum?“
„Wie soll ich mich ausdrücken … es ist eben nix mit ihr los!“
„Heiraten Sie sie nur nicht!“ warnte Grischa.
„Warum denn nicht, meine jungen Freunde?“
„Sie fürchtet sich vor Mäusen!“
„Weiter nichts?“
„Ist das nicht genug? Jedesmal brüllt sie wie besessen. Und ich kann eine lebende Ratte am Schwanz halten!“ fügte er stolz hinzu.
„Gestern haben wir zwei entdeckt und kalt gemacht!“ meinte siegesbewußt Grischa.
Ich war sehr froh, daß wir von dem etwas kitzlichen Tantenthema abgekommen waren, und drehte geschickt die Unterhaltung zu den Räubern zurück. Alle sprachen mit großer Sachkenntnis und Anerkennung von ihnen. Man staunte, daß ich trotz meiner Freiheit keiner geworden war.
„Lela hat Hunger,“ sagte plötzlich der Kleinste.
„Was wollt ihr? Fische fangen, abkochen im Freien und mit Kartoffeln verzehren oder – Abendbrot von der Köchin?“
Einstimmig wurde für Fische und Kartoffeln gestimmt.
„Soll man die Kartoffeln stehlen oder von der Köchin holen?“
„Stehlen! Stehlen!“
„Das ist doch viel lustiger! Alles stehlen: Salz, Pfeffer, den Kessel auch.“
Und so leitete ich eine Unternehmung ein, die auf Diebstahl, Mord und dergleichen gerichtet war.
IV.
Es war schon spät abends, als wir Feuer machten und den kleinen Kessel aufsetzten. Wanja rupfte einen auf dem Hof gestohlenen Hahn, und Grischa, der soeben im Fluß gebadet hatte, führte im Adamskostüm wilde Tänze um das Feuer auf.
Die Kinder schienen ganz verliebt in mich zu sein. Lela hielt meine Hand uns sah mich geradezu begeistert an.
Plötzlich lachte Wanja hell auf.
„Was würden Vater und Mutter wohl sagen, wenn sie uns hier sähen?“
„Ha, ha!“ brüllte der immer noch nackte Grischa. „Keine einzige Aufgabe gemacht! Mit der Flinte geschossen! Geraucht! Nachts gebadet und kein Abendbrot zu Hause gegessen!“
Nach dem Souper breiteten wir uns auf den aus dem Hause geholten Decken aus und rauchten.
„Wollen wir hier nicht übernachten?“
„Es ist doch etwas kalt und feucht,“ erwiderte ich.
„Ach was, wir werden das Feuer immer weiter schüren und eine Wache wird eben aufgestellt werden.“
„Werdet ihr euch nicht erkälten?“
„Niemals! Himmelkreuz – – -!!“
„Wanja, fluchst du schon wieder? Weißt du noch, was die Miß gesagt hat?“
„Fluchen und Schimpfen,“ fügte ich hinzu, „besonders wie eben, ist häßlich. Es gibt viel schönere Flüche, wie: Bei der Ehre meines Bartes! Tausend Blitze!“
„Hunderttausend Blitze,“ brüllte Grischa, „wir wollen Holz fürs Feuer holen.“
Wir gingen. Lela hing sich in meinen Arm und ging mit.
Beim Feuer wurde geschlafen.
Und als der Morgen graute, erwärmte uns die Sonne. Die Vögel sangen, und wir erwachten zu neuen Taten und neuem Unfug.
V.
Wie ein Traum waren die drei Tage verflogen.
Schließlich hatten meine Zöglinge jegliches menschliche Aussehen verloren …
Die weißen Matrosenjacken waren nur noch graue Lumpen. Grischa lief überhaupt ohne Hosen, mit der Behauptung, er hätte sie verloren. Ich glaube, er hatte es mit Absicht getan, um sich das lästigen An- und Ausziehen beim Baden zu ersparen.
Die Gesichter der Jungens waren dunkelbraun, die Stimmen vom Schlafe im Freien und vom Rauchen rauh und heiser. Sie redeten nur noch in kurzen, abgerissenen Worten:
„Wer hat meine Zigaretten gestohlen?“
„Die Teufelsbüchse schießt wieder nicht!“
„Mischa, Streichhölzer?!“
Aber an diesem letzten Tage bemächtigte sich meiner eine gewisse Unruhe. Was werden die Eltern sagen?
Die Drei beruhigten mich, so gut sie es konnten:
„Na, höchstens werden wir durchgeprügelt, daran stirbt man nicht!“
„Tausend Blitze, sie sollen sich nur mal an dir vergreifen, dann kriegen sie es mit mir zu tun.“
„Na, mir wird schon nichts passieren. Aber ihr, meine Lieben, werdet das Schießen, Rauchen und Herumlungern schon auf eurer Kehrseite spüren.“
„Machts nichts! Dafür haben wir fein gelebt.“
Abends trafen die Alten mit der Miß und der „Mäuse-Tante“ ein.
Die Kinder waren verschwunden – unter Sofas und Betten. Wanja saß im Keller.
Ich zog sie aus ihrem Dunkel ans Licht des Tages hervor, führte sie ins Speisezimmer, wo die ganze Familie beim Abendessen saß, und begann:
„Mein Lieber, als du wegfuhrst, hast du die Hoffnung ausgesprochen, daß ich mich mit deinen Kindern anfreunden werde. Es ist geschehen. Ich habe den Weg zu ihren Herzen gefunden. Paßt mal auf, Kinder! Wen liebt ihr mehr: Vater und Mutter oder mich?“
„Dich!!!“ klang es einstimmig.
„Würdet ihr mir zum Stehlen und Morden, in Hunger und Kälte, ja bis in den Tod folgen?“
„Jawohl!“ und Lela packte mich am Arm, als solle es gleich geschehen.
„Wart ihr in diesen drei Tagen mit mir zufrieden?“
„Und wie!!!“
Sie standen da: kräftig, gesund, braun, in Lumpen gekleidet, aber glücklich und stolz. Der Vater runzelte die Stirn. Ein Gewitter war im Anzuge. Er wandte sich an den Jüngsten.
„Du würdest mich und deine Mutter verlassen und mit ihm gehen?“
„Ja!“ antwortete Lela tapfer. „Das würde ich tun. Bei der Ehre meines Bartes!“
Und dieser Bart war der Retter. Alles lachte hell auf, am meisten Tante Lisa, die mir strahlende Blicke zuwarf.
Als ich dann die Drei ins Schlafzimmer brachte, sagte Grischa verächtlich: „Ja, quietschen kann sie, als ob eine Maus unter ihrem Rosk säße. Dummes Ding! Du heiratest sie doch nicht?!“