Roman über die Entstehung von Hans Falladas letztem Roman, Axel Dielmann Verlag, 2022
Was ist die Akte Klabautermann? Welche Figur ist die lebendigste in Teutschs Roman? Warum beschränkt sich der Autor darauf, Hans Fallada aus der Distanz zu beobachten?
Hans Falladas Bücher begleiten mich seit frühester Jugend. Kaum ins Teenageralter gekommen, sah ich mit meinen Eltern und meinen beiden Schwestern den Fernsehmehrteiler „Ein Mann will nach oben“. Familienfernsehen pur: mein Vater auf der Couch liegend, meine Mutter im Fernsehsessel und Ute und Andrea in den beiden anderen Sesseln sitzend. Ich selbst habe mir unter dem Wohnzimmertisch liegend, hoch zum Fernseher schauend, eine Nackenstarre geholt.
Ich war schon immer eine Leseratte. Klar, dass ich mich nach Ausstrahlung der ersten Folge am nächsten Tag auf den Weg in die örtliche Buchhandlung machte, um mir den Roman zu kaufen, auf den der Mehrteiler basierte. Er war nicht vorrätig. Das einzige Buch, das die Buchhandlung von Hans Fallada im Regal stehen hatte, war „Kleiner Mann, was nun?“ Was für ein Glück! Der Roman ist immer noch eines meiner Lieblingsbücher.
„Jeder stirbt für sich allein“ habe ich erst viel, viel später gelesen. Es war ein intensives Lesen. Ein Lesen, bei dem man alles um sich herum vergisst und nachempfindet, was andere Menschen fühlen. Fremde Menschen, deren Schicksal einem so nahe geht.
Und nun hat sich jemand daran gemacht, die Entstehungsgeschichte von „Jeder stirbt für sich allein“ zu erzählen. Ich war voller Vorfreude, als ich mit dem Lesen von Oliver Teutschs Roman begann. Ich war neugierig. Ich war aber auch skeptisch. Dokumentarisches Schreiben ist in Mode gekommen in letzter Zeit. Leider ist es nicht jedem gelungen.
Oliver Teutsch nimmt uns mit in das vom Krieg zerstörte Berlin der Jahre 1945 und 1946. Die Stadt gleicht einem Trümmerfeld. Es herrscht Wohnungsnot, die Versorgungslage ist katastrophal.
Auch das kulturelle Leben liegt am Boden. Ändern will das Johannes R. Becher, Präsident des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in der sowjetischen Besatzungszone. Ein antifaschistischer Widerstandsroman soll geschrieben werden, der den Menschen in der schwierigen Zeit Mut machen soll. Als Stoff schwebt Becher „Die Akte Klabautermann“ vor: eine Gestapo-Akte, die den Fall des Ehepaars Hampel dokumentiert, das Postkarten mit Anti-Hitler-Parolen in Berlin verteilt hat, gefasst und hingerichtet wurde. Einen Schriftsteller für dieses Projekt hat Becher bereits ins Auge gefasst: einen Romancier, der während der Nazi-Diktatur in Deutschland geblieben war: Hans Fallada.
Becher und Fallada finden nicht gleich zueinander, doch als sie sich schließlich zum Gespräch treffen, kann der Kulturpräsident Falladas Lebensumstände sehr schnell bessern. Fallada zieht mit seiner zweiten Frau in ein Haus und erhält Lebensmittelkarten. Becher verschafft ihm Schreibaufträge für Zeitungen, die bereits wieder erscheinen können. Nur das Projekt „Klabautermann“ will Fallada nicht übernehmen. Doch Becher bleibt hartnäckig. Und schließlich ist es wohl das Geld, das Fallada zustimmen lässt. Geld, das er braucht, um die eigene Morphiumsucht und die seiner zweiten Frau zu finanzieren.
Überhaupt Becher. Das ist die stärkste Figur in diesem Roman. Diese Figur lebt! Becher wird von Teutsch derart einfühlsam skizziert, vom ersten Auftreten an, dass man es jedesmal zutiefst bedauert, dass er wieder von der Szene abtritt. Wie menschlich verhält er sich gegenüber Fallada, wie offen spricht er mit diesem über Parallelen in ihrer beider Leben! Und auch eigene Schwächen kann sich der Mann eingestehen.
Alle anderen Figuren (und da tauchen in Teutschs Roman viele bekannte Namen auf wie Gottfried Benn und Wilhelm Pieck) bleiben blass. Auch die Hauptperson, Hans Fallada.
Der Schriftsteller ist schwer gezeichnet von seiner Alkohol- und Morphiumsucht. Auch seine zweite Frau Ulla – sie ist wesentlich jünger als er – ist drogensüchtig. Fallada ist hoch verschuldet. Und seit Jahren, gesteht er sich ein, hat er keinen Satz von Bedeutung zu Papier gebracht.
Dieser Fallada bleibt trotz aller Sorgen, die er hat, für den Leser blass. Und das ist gut so!
Die Redewendung „Schuster, bleib bei deinem Leisten“ fällt mir ein. Und ich erinnere mich an eine Aussage des Abenteuerschriftstellers B. Traven, der sagte, dass er alle Trauer und alles Herzweh erst selbst erleiden muss, ehe er es die Gestalten erleiden lassen kann, die von ihm ins Leben gerufen werden sollen.
Natürlich hätte Oliver Teutsch das Innenleben des drogensüchtigen Schriftstellers vor uns Lesern ausbreiten können. Es hätte seinem Roman viel mehr Tiefe gegeben. Es hätte aber auch sehr leicht in die Hose gehen können.
So beschränkt sich Teutsch darauf, Fallada aus der Distanz zu betrachten. Er beobachtet, wie der Schriftsteller von einer Krise in die nächste schlittert und überlässt das Urteil dem Leser. Wir sehen Hans Fallada so, wie ihn auch die Menschen sehen mussten, die in dieser Zeit auf ihn trafen. Und dieses Bild erschüttert und entspricht der Realität.
Zum Schluss des Romans geht es Schlag auf Schlag. Wie im Zeitraffer wird das Schreibens Falladas an seinem Roman geschildert. Und nun wird auch die Hauptfigur des Romans lebendig. Fallada blendet alles um sich herum aus, er ist mit den Figuren, die er erschafft, allein. Bedeutende Ereignisse geschehen in dieser kurzen Zeit, Fallada nimmt sie nicht wahr. Er hat einen Tunnelblick, nach und nach baut er das Geschehen seines Romans auf. Wie im Wahn schreibt er Seite um Seite und wir blicken ihm dabei über die Schulter.
Als Leser wünscht man sich, Teutschs Kapitel „Der Roman“ möge nicht enden. Aber kurze Zeit später hat man „Die Akte Klabautermann“ gelesen und legt das Buch beiseite.
Durchatmen.
Oliver Teutsch hat nicht nur die Entstehungsgeschichte von „Jeder stirbt für sich allein“ erzählt. Er hat auch einen richtig guten Roman geschrieben!