Robert Musil – Der Mann ohne Eigenschaften

Roman, Rowohlt Verlag, erster Band 1930

Mit welchem Trick ist es mir gelungen, mir Zugang zu dem Roman zu verschaffen? Was ist die Parallelaktion? Was ist der Schlüssel für Veränderung?

Es gibt Bücher, mit denen man kann. Es gibt Bücher, mit denen man nicht kann. Die sich einem, gibt man sich auch noch so viele Mühe, einfach nicht erschließen wollen. Zu einem dieser Bücher gehörte für mich Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Was habe ich nicht alles versucht, in dieses Buch hineinzufinden! Bin in den Urlaub geflogen, entgegen meinen Gewohnheiten nur dieses eine Buch als Lesestoff mitnehmend, und kam doch nicht über einige Seiten hinaus (zum Glück gab es vor Ort irgendeine deutsche Zeitung zu kaufen, ein ganz schwacher Trost). Das ist mir nur noch mit einem weiteren Buch passiert, und es ist schon amüsant, dass mir eine Internetbuchhandlung gerade diesen Titel im Paket mit Musils Roman zum Kauf anbietet. Können Sie sich vorstellen, um welchen Roman es sich handelt? Raten Sie. Kleiner Tipp: Es handelt sich um einen irischen Autoren. Die Lösung finden Sie am Schluss dieser Besprechung.

Wenden wir uns Musils (unvollendetem) Roman zu, denn mit einem Trick ist es mir gelungen, Zugang zu diesem Werk zu finden, ja, die über 1000 Buchseiten lange Lektüre von Seite zu Seite mehr zu genießen; sogar die langen philosophischen, die Gedanken des Protagonisten Ulrich transportierenden Passagen – die Ausflüge in die Technik und Mathematik nicht zu vergessen – verloren ihren Schrecken. Nun möchten Sie sicher erfahren, um welchen Trick es sich handelt. Nun, ich habe mir ein Hörbuch gekauft. Nicht die komplette, 20 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 1.161 Minuten umfassende Version des Hörverlags, sondern die im gleichen Verlag erschienene Rough Cut-Version, die auf knapp über einer Stunde Einblicke in den Roman gewährt und einem in appetitlichen Häppchen Musils Schreibe und Denke näher bringt. Leider ist dieses empfehlenswerte Hörbuch zurzeit nur antiquarisch zu beziehen.

So hatte ich nach mehrmaligem Hineinhören in verschiedene Textabschnitte richtig Lust, Der Mann ohne Eigenschaften zu lesen. Zunächst als wie Arbeit empfundene Pflicht begonnen, wurde die Lektüre mehr und mehr zum Lesevergnügen. Erschien mir Musils Roman früher, bei erfolglosen Leseversuchen, düster und schwer verdaulich, eröffnete sich mir nun ein mit viel Augenzwinkern und liebevollem Humor versehenes Werk.

Ulrich ist Der Mann ohne Eigenschaften, wie ihn sein Jugendfreund Walter bezeichnet. Nach drei erfolglosen Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden — als Offiziersanwärter, Ingenieur und Mathematiker — plant er „ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen, um eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen.“ Auf Drängen seines Vaters wird er Bestandteil der Parallelaktion, die einen symbolischen Akt zum siebzigjährigen Thronjubiläum des österreichischen Kaisers im Jahr 1918 plant. Da auch der deutsche Herrscher im gleichen Jahr ein Thronjubiläum feiern wird, sein dreißigjähriges, wird die Versammlung Parallelaktion benannt. Es wird viel geredet, diskutiert, intrigiert, aber letztendlich nichts beschlossen.

Als Ulrichs Vater stirbt, trifft er seine Schwester Agathe wieder, die kurze Zeit später ihren zweiten Ehemann verlässt und zu ihrem Bruder zieht. Ulrich verliebt sich in seine Schwester, schreckt aber vor dem Inzest zurück.

Einer Rezension entnehme ich: „Musils Protagonist Ulrich ist gar kein Mann ohne Eigenschaften. Der Romantitel führt da ein wenig in die Irre. Tatsächlich ist es eine Welt von Eigenschaften ohne Mann, die im Buch nichts Charakteristisches mehr zu bieten hat.“

Diese Aussage geht zwar in die richtige Richtung, doch den Kern trifft der Rezensent damit nicht. Vielmehr stellt Musil in seinem Roman heraus, dass die Eigenschaften eines Einzelnen, und seien sie noch so stark ausgeprägt, nicht ins Gewicht fallen und für Veränderungen sorgen können: „Die Muskelleistung eines Bürgers, der ruhig einen Tag lang seines Wegs geht, ist bedeutend größer als die eines Athleten, der einmal im Tag ein ungeheures Gewicht stemmt; das ist physiologisch nachgewiesen worden, und also setzen wohl auch die kleinen Alltagsleistungen in ihrer gesellschaftlichen Summe und durch ihre Eignung für diese Summierung viel mehr Energie in die Welt als die heroischen Taten; ja die heroische Leistung erscheint geradezu winzig, wie ein Sandkorn, das mit ungeheurer Illusion auf einen Berg gelegt wird.“

Oder an anderer Stelle: „Ja es kam Ulrich nach seiner unfreiwilligen Erfahrung sogar vor, daß es verzweifelt wenig Wert habe, wenn da die Gewalt, dort die Könige abgeschafft werden und irgendein kleiner oder großer Fortschritt die Dummheit und Schlechtigkeit vermindert; denn das Maß der Widerwärtigkeiten und Schlechtigkeiten wird augenblicklich wieder durch neue aufgefüllt, als glitte das eine Bein der Welt immer zurück, wenn sich das andere vorschiebt.“

Die Gruppe der „Parallelaktion“ – ein Sammelsurium der unterschiedlichsten Menschen – zeigt deutlich, dass sich Veränderungen, Verbesserungen und Ergebnisse nicht erzielen lassen, wenn jeder lediglich seine eigenen Interessen verfolgt und sich weigert, eindeutig Stellung zu beziehen. So steht jede Person für sich allein und schlägt sich als ein Einzelkämpfer durchs Leben. (Ohne dass jeder Einzelne es merkt, werden seine Bemühungen im Ersten Weltkrieg enden. Und sich, welche Ironie, das geplante Feierjahr 1918 als das des Zerfalls beider Monarchien erweisen.)

Der Schlüssel für eine Veränderung dieser Verhaltensweise ist die Liebe. Doch für Ulrich, wie seine ihn umgebenden Mitcharaktere, nicht fähig, feste Bindungen einzugehen (und das gilt auch für das verheiratete Freundespaar Clarice und Walter), stellt die Liebe keinen gangbaren Weg dar, als er sich in seine Schwester Agathe verliebt.

„Im Mann ohne Eigenschaften passiert nur wenig“, lese ich in einer weiteren Rezension. Nun, es passiert sogar eine ganze Menge, man wird förmlich von Reizen überflutet, sodass es einem als Leser schwer fällt, die Musilschen Bilder in sich aufzunehmen. Nur dass das, was passiert, niemals zu einem Ergebnis, sondern immer in die Leere führt.

Dem Lesespaß tut dies jedoch keinen Abbruch, sage ich nun mit 20-jähriger Verspätung. Ein Buch für Dutzende Mineralwasser trinkende Sommerabende (denn Hochprozentiges bietet der Roman satt), dem Regen lauschende Herbstabende oder verträumt nachdenkliche Stunden vor dem Kamin (wenn man denn einen hat). Von Musils Roman haben viele gehört. Es lohnt sich, ihn auch zu lesen!

Lösung: James Joyce, Ulysses

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