Roman, S.Fischer Verlag, 1924
Warum sollten wir den Deutschen Bundestag in den „Zauberberg“ umbenennen? Was veranlasste Thomas Mann, den Roman zu verfassen? Warum ist es ein Zeitroman in gleich doppeltem Sinne?
Sollen wir nicht den Deutschen Bundestag in Der Zauberberg umbenennen? Haben nicht alle der dort versammelten Volksvertreter, egal, welcher Partei sie nun angehören mögen, etwas von Hans Castorp? Schließlich begeben sie sich freiwillig zu diesem Ort und können es sich leisten dort zu sein. Und mir macht es den Anschein, als throne die Politik mittlerweile über das Volk, so wie das Sanatorium über Davos thront.
„Hinter den Kulissen also geht so etwas vor sich.“ (Drittes Kapitel, Neckerei, Viatikum. Unterbrochene Heiterkeit), nicht nur in Thomas Manns Roman, und auch hier kann man die die Gespräche der Parteien zur Regierungsbildung als Beispiel heranziehen.
Obwohl der Roman einen Umfang von ca. 1.000 Seiten aufweist (je nach Ausgabe knapp unter oder knapp über 1.000 Seiten), ist die (Rahmen-)Handlung schnell erzählt. Der elternlose Hans Castorp wächst zunächst bei seinem Großvater, nach dessen Tod bei einem Großonkel in Hamburg auf. Er studiert Schiffbautechnik und reist vor Eintritt in das Berufsleben in die Schweizer Alpen, um seinen Vetter Joachim Ziemßen in einem Sanatorium in der Nähe von Davos zu besuchen. Ursprünglich beabsichtigt Castorp, drei Wochen zu Besuch zu bleiben.
Castorp, der sich von Beginn seines Aufenthaltes an fiebrig fühlt, beginnt, an einer Erkältung zu leiden. So werden die geplanten drei Wochen fürs Erste auf unbestimmte Zeit verlängert. Schließlich wird sich Hans Castorp sieben Jahre im Sanatorium aufhalten. Erst der Ausbruch des 1. Weltkriegs lassen ihn und auch die anderen Patienten in ihre Heimatländer zurückkehren. Im letzten Kapitel nimmt Castorp als gewöhnlicher Soldat an einem Angriff an der Westfront teil. Und so gerät er, Schuberts Lied Der Lindenbaum auf den Lippen, aus dem Blickfeld des Lesers.
Soweit die Kurzfassung. Ansonsten ist Der Zauberberg ein dermaßen vielschichtiges Werk mit zahlreichen Leitmotiven, Themen, Anspielungen, Andeutungen, philosophischen Betrachtungen, Vergleichen, dass diese unmöglich beim einmaligem Lesen erfasst werden können. Immer hat man das Gefühl, nur an der Oberfläche der Mannschen Gedankenwelt zu kratzen. Aber bereits das ist äußerst erbaulich.

Ein Sanatoriumsaufenthalt von Thomas Manns Frau Katia in Davos im Jahre 1912 – der Schriftsteller besuchte seine Frau für drei Wochen – ließ in Mann die Absicht wachsen, seine gewonnenen Eindrücke im Rahmen einer Novelle zu verarbeiten. Bereits 1913 begann er mit seiner Arbeit, die durch den Ausbruch des 1. Weltkriegs unterbrochen wurde. 1920 schrieb er am Zauberberg weiter. Aus der kurzen unerhörten Begebenheit war das Werk zu einem zweibändigen Roman angewachsen, den Mann selbst augenzwinkernd als eine „ausgedehnte short story“ bezeichnete.
„Es ist ein Zeitroman in doppeltem Sinn: einmal historisch, indem er das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil die reine Zeit selbst ein Gegenstand ist, den er nicht nur als Erfahrung seines Helden, sondern auch in und durch sich selbst behandelt“, erklärte Thomas Mann vor Studenten der Universität Princeton im Mai 1939.
Wohl wahr, die Zeit spielt in Thomas Manns Werk eine große Rolle. Die Patienten des Sanatoriums, aus ihren gewohnten Verhaltensweisen gerissen, in einer hermetisch abgeriegelten Welt lebend, werden vom Zauberberg in einen Zustand der Zeitlosigkeit versetzt, neigen zu Passivität, Pflichtvergessenheit und Faulheit. Und da sind wir wieder beim einleitenden Bild dieses Beitrags. Bewegen wir uns nicht, angesichts der immensen Schulden, die die Staaten anhäufen auf eine neuerliche Katastrophe zu, frage ich mich. In Form einer Rezession, vielleicht gar eines Krieges? Auch verantwortet von Menschen, die sich wie Hans Castorp aus der Verantwortung stehlen?
Der Zauberberg ist aktueller denn je. Der Roman liegt als Fischer Taschenbuch vor (ISBN 978-3596294336, 12,95 Euro). An Sekundärliteratur mangelt es nicht. Sehenswert ist die Verfilmung des Regisseurs Hans Werner Geißendörfer, die auf DVD erhältlich ist.