Joseph Roth – Der Altersgenosse

Erzählung, abgedruckt im Prager Tagblatt, Ausgabe vom 10. September 1930

Der Altersgenosse begegnete mir unvermutet in einer kleinen und stillen Gasse, nach langen Jahren, in denen wir gewachsen waren und uns so verschieden entwickelt hatten, daß wir beinahe aufhörten, gleichaltrig zu sein. Denn während er gemäß den Gesetzen der Natur und den Vorschriften der menschlichen Gesellschaft Jahr um Jahr angelegt hatte, etwa wie ein Baum Ringe bekommt, war es mir nicht vergönnt gewesen, in einer einfachen und edlen Natürlichkeit alt und älter zu werden, aus dem Jünglings- in das Mannesalter hineinzuwachsen und die etwas leichtsinnige Einfalt der Reise zu verwandeln. Und während er in einer redlichen und nur durch Krankheit und Weltkrieg unterbrochenen Reihenfolge Wissen erwarb und Prüfungen bestand, Titel verdiente und sich in einem ehrenvollen staatlichen Amt vom Untergebenen zum Vorgesetzten hinaufschraubte, ein Weib erkor und einen eigenen Herd baute, Vater wurde und Häuptling eines Hauses, verlor ich die Zeit, die mein Leben hätte werden können, in dem törichten Wahn, sie sei für mich noch nicht gekommen.

Heute, es ist freilich zu spät, erkenne ich, daß jedem Symptom des Alterns ein Symptom der sozialen und seelischen Veränderung entsprechen müßte, wie dem Klang sein Echo, der ersten Runzel die Vaterschaft folgen müßte, dem ersten Haarausfall die größere Dichtigkeit des Bankkontos, der ersten Ermüdung auf einer Wendeltreppe etwa, beim Besteigen eines Aussichtsturms, die Gewißheit eines Grundbesitzes oder zu mindest einer Hypothek. Bis zu dem Augenblick aber, in dem ich meinen Altersgenossen sah, lebte ich so, als wäre die Zeit, die da an meinen Füßen vorbeirann, nicht die meine, die Jahre schichteten sich gleichsam hinter meinem Rücken, und vor mir sah ich einen noch unbetretenen, jungfräulichen Zeitraum, der auf mich wartete. Eines Abends, in der kleinen und stillen Gasse, trat mir der Altersgenosse entgegen, und, obwohl er sich herzlich freute und mir gegenüber die Strenge nicht walten ließ, ohne die er es im Amt wie im Leben bestimmt nicht so weit gebracht hätte, war es mir doch, als wollte er mich ertappen, ja als hätte er mich schon ertappt, auf alter Tatenlosigkeit sozusagen. Deshalb gebot mir auch der Instinkt sofort zu fliehen, hierauf, mich zu verstellen, und mit der elastischen Unbekümmertheit eines Jüngeren an ihm vorbeizutraben. Dazu aber war es zu eng und auch zu spät. Er stand vor mir wie eine Mauer.

Er war kleiner gewachsen als ich, aber er erschien mir bedeutend größer, als stünde er gewissermaßen auf dem Sockel der Jahre, die er erreicht und ich verloren hatte, und statt zu ihm hinunterzusehen, wie es unsere physiologische Verschiedenheit verlangte, sah ich zu ihm hinauf. Es war mir, als müßte ich unser Gespräch mit einer Entschuldigung beginnen, allerdings ohne zu wissen, wofür ich mich entschuldigen sollte. Er schien meine Verlegenheit nicht zu bemerken, er sagte mir „Du“, und obwohl wir einander niemals „Sie“ gesagt hatten, fühlte ich mich diesmal nicht wenig geschmeichelt und durch die Leutseligkeit meines Freundes zu der ehrenwerten Gilde meiner Altersgenossen gnadenhalber zugelassen. „Wie geht es dir?“ fragte er mit schlichter Teilnahme, er, ein Regierungsrat im Polizeipräsidium, ein hoher Funktionär in einem Gebäude, das ich nicht ohne Angst betrete – – und nur in den dringlichsten Fällen. „Ich habe oft an dich gedacht“, sprach er weiter, so selbstverständlich, so aufrichtig, daß ich ihm glauben mußte. Während er die schwersten Verantwortungen auf sich lud, in menschliche Schicksale durch kleine aber wichtige Eintragungen eingriff, ein Heer von Kriminalisten befehligte, schnellstens an diversen Tatorten erschien, fand er noch Zeit, an mich zu denken, und sogar oft. Und ich hatte inzwischen nicht nur alles Nötige versäumt, sondern auch ihn vergessen. „Auch mir“, log ich zögernd, „bist du oft in den Sinn gekommen!“ „Aber du hast dich nie gemeldet“, erwiderte er – und der Vorwurf enthielt bereits die Verzeihung – „du bist immer noch der Alte.“ Nun bemerkte er es ja selbst. Ich war immer noch der Alte, während er, wie es sich gehörte, ein anderer geworden war. „Man wächst sich so auseinander“ – klagte ich. „Schade, schade!“ – sagte er und: „Ein Glück, daß ich dich treffe.“

Er war gerade in den Ferien, sonst hätten wir uns nie getroffen. Er wohnte in dieser Gasse, in einem Haus mit Vorgarten, seine Frau und seine Kinder hielten sich an der Ostsee auf, der Hund war zu Hause geblieben, am Rande der Stadt besaß mein Altersgenosse einen bescheidenen Besitz, guter Wein lag in seinem Keller, in seiner Wohnung, die ich besichtigen mußte, hingen gute Bilder, standen gute Bücher, herrschte gute saubere dunkle Kühle. Die Ueberkleider im Vorzimmer hingen auf Bügeln, die Regenschirme und Stöcke standen in Behältern, ein blanker, freundlicher Kachelschimmer fiel durch einen Türspalt ins Halbdunkel des Entrées, verstohlener Widerschein eines reinlichen Innenlebens. Auch das Verborgene war dermaßen gepflegt, daß es sich zeigen durfte, ohne anstößig zu sein, auch die Geheimnisse dieses Lebens trugen eine tadellose Hülle aus Sauberkeit und verrieten sich also nicht, selbst wenn sie sich gelegentlich offenbarten.

„Hier wohne ich seit sechs Jahren“, sagte mein Altersgenosse. Seit sechs Jahren war er Regierungsrat. Jahr um Jahr war die Wohnung schöner und heimischer geworden. Ein geringes Einkommen verwandelte sich zusehends zu einem genügenden Auskommen. In großen und kleinen Büchern standen die Einnahmen, die Ausgaben, die Schulden. Wohl vermochte ich noch hinter dem Antlitz, das mein Altersgenosse heute trug, jenes frühe Jünglingsgesicht zu entdecken, das in meinem Gedächtnis verwahrt war. Ich glättete seine Lider, wischte eine Falte von seiner Nasenwurzel, den Schnurrbart von seiner Oberlippe, nahm Fleisch von seinem Kinn und pflanzte ein Haarbüschel in seine Stirn. Siehe, da war er! Auf diese Weise versuchte ich, mit ihm vertraut zu werden, heimischer in seiner Wohnung und ein Freund in seinem Herzen. Aber je länger ich bei ihm blieb, desto schüchterner wurde ich auch, geringer und fast furchtsam. Zwischen seinem und meinem Namen lagen Titel und Verdienste, durch das Amt, das ihn bekleidete, konnte ich nicht vordringen, kein Eintrag ohne Anmeldung im Zimmer nebenan und dieses war geschlossen. Einfach und edel, wie er war, tat er, als merkte er meine Verlorenheit nicht und als wäre er meinesgleichen und als hätte auch ich Verdienste, Titel und Aemter. „Wann hast du Ferien?“ fragte er. „Erst im Herbst“, sagte ich, um nicht „immer“ zu sagen. „Viel Arbeit?“ fragte er. „Sehr viel!“ seufzte ich. – „Aber angenehme!“ – „Nicht immer!“ – „Ich dachte, du seiest der glücklichste Mensch!“ – „Ja, gelegentlich!“ – „Also hat jeder seinen Kummer!“ resümierte er. Aber von der Art des Kummers sprach er nicht.

Wir schieden und versprachen uns ein Wiedersehen. Als ich ihn verließ, wiederholte ich nur, daß ich so alt sei wie er, keine Spur jünger, daß es aber auch seinen rechten Sinn habe, auf einmal mit dem Aelterwerden anzufangen. Solange er mir freundlich gesinnt blieb, würde ich auch auf eine Protektion bei dem Ernst des Lebens rechnen können, vielleicht sogar bei der Polizei. Sooft ich will, kann ich meinen Altersgenossen in seinem Amt besuchen und, begnadet mit einem Abglanz seiner Persönlichkeit und durch seine Freundschaft entschuldigt, wieder hinaustreten in meine leichtfertig zeitlose Gegenwart. Er altert in selbstlosester Weise auch für mich.

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