Erzählung, Abdruck in der Arbeiter-Zeitung am 5. Juni 1927
Teresina kam um sechs Uhr abends mit dem Schnellzug in der Stadt D. an. Sie war müde und hungrig; um Essen zu kaufen, hatte sie kein Geld. Im schmutzigen Bahnhofbüfett bestellte sie sich ein Glas heißen Tees, bekam zwei Würfel Zucker, einen davon barg sie in ihrer Handtasche, ein Stück alten Brotes nahm sie heraus, aß es in gierigen Bissen dazu. Dann schleppte sie ihren großen viereckigen, braun angestrichenen Holzkoffer über die Geleise, hinüber zu den Treppen. Endlich stand sie auf der Straße.
Den Kutschern und Trägern, die sich ihr anboten, sagte sie danke, sie wolle sich den Koffer selbst ins Hotel tragen. Einen Jungen fragte sie nach der Gasse, sie hörte, daß das Hotel, das ihr vom Agenten zugewiesen wurde, ein kleiner Gasthof, eine billige Herberge sei. Das war ihr gerade recht, da brauchte auch sie keinen Aufwand vortäuschen und konnte das Geld für einen Wagen sparen.
„Wenn du mir helfen wolltest“, sagte sie bittend zu dem Jungen.
„Es kommt darauf an, was Sie zahlen wollen.“
„Du mußt nicht allein tragen, nur mir helfen, dann kann es nicht so viel kosten.“
Es war nicht viel, was der Junge verlangte, aber eine unerwartete Ausgabe, denn der Agent hatte gesagt, Gepäck wird besorgt. Sie hatte aber niemand im Bahnhof getroffen, der für ihr Gepäck gesorgt hätte.
Während sie ging, spürte sie, wie Nässe in ihre Schuhe drang. Es war Tauwetter.
Im Gasthof fand sie den Wirt und die Wirtin in der Eingangstür.
„Ich bin die Tänzerin Teresina, die heute im Casino de Paris auftreten soll.“
Die Wirtin ging voraus, entschuldigte sich, daß der Ofen nicht geheizt war – in diesen billigen Gasthöfen rauchen die Ofen beständig -, sie nahm einen Schlüssel von der Wand und öffnete eines der beiden kleinen Zimmer; es war nichts weiter darin als ein Bett, ein Waschtisch, ein Schrank, zwei Stühle.
Kaum hatte Teresina ihren Mantel abgelegt, betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel. Es sah müde, blaß und mager aus; aber es war nicht unschön. Kaum sichtbare Spuren von Abgelebtheit, kaum sichtbare Falten, wie man sie nach Kummer oder überstandenen Krankheiten bekommt, in einer Zeit, da die Jugend noch nicht vorbei ist.
Teresina wird trauriger als zuvor, mutloser, als sie ihr Gesicht besieht. Eine gleichgültige Stimmung kommt über sie.
Am besten ist, ich tue jetzt gar nichts. Lege mich für eine Weile ruhig hin; denn spätestens um halb acht muß ich mich auf den Weg machen, da ich um halb neun auftreten soll.
Kaum lag sie zwei Minuten auf dem Bett, hämmerten wieder unruhige Gedanken in ihrem Kopf: Aber ich sollte vorher doch noch ein wenig trainieren; Arme und Beine sind unbeweglich von der langen Fahrt. Sie reckte sich. Wie müde sie war! Wenn sie jetzt ruhig schlafen könnte, nicht essen, nicht trinken, nichts tun und nichts denken, nur schlafen! Sie schloß die Augen, fiel in Halbschlummer. Der Rhythmus der Räder ging noch von der Bahnfahrt her als Reflexgeräusch durch ihren Kopf. Sie schreckte auf, als säße sie noch im Zuge. „D. Endstation. Wir fahren nur bis D.!“ hörte sie im Traume den Schaffner rufen.
Ach so, sie war ja schon am Ziele, lag ja schon in einem Zimmer auf dem Bette.
Mit einem Ruck erhob sie sich, blickte auf ihre silberne Armbanduhr, dann begann sie sich auszukleiden und zu waschen.
Es ist am besten, ich tue nichts – es wäre zu spät, in letzter Minute mit dem Trainieren zu beginnen. Möge es gehen, wie es wolle.
Sie nahm aus dem Holzkoffer den Karton, in dem ihre drei Tanzkleider mit allem, was dazu gehörte, lagen und die Klaviernoten für den Kapellmeister. Dann hüllte sie sich in ihren braunen Tuchmantel mit dem geflickten Futter, setzte das kleine Hütchen mit dem Reiseschleier auf und ging, den Karton unterm Arme, aus dem Hause.
Vorübergehende mußte sie mehrmals nach der Straße fragen. Die Wege waren dunkel. Der Schnee lag naß und schmutzig auf dem Boden. Die Luft war mild, mutete märzlich an. Ein warmer Wind brachte den Geruch von Felderde in die Straßen.
Teresina hat erkundet, daß sie noch ein paar Quergassen durcheilen mußte, bis sie in die Hauptstraße kam.
In der Mitte der Hauptstraße, auf dem großen Platze, lag das Casino de Paris.
Eine schreckliche Angst befiel sie, je näher sie kam, ob sie genügen würde, ob sie gefallen würde? Ach, davon hing so viel für sie ab! Vorläufig sollte sie hier an drei Abenden tanzen. Sollte sie „die Gunst des Publikums erringen“, würde man sie auch für die umliegenden kleineren Städte anstellen und beinahe einen Monat lang würde sie Beschäftigung und Bezahlung finden.
Sie hatte jahrelang nicht mehr getanzt, fast ebenso lange, als Lisabetta auf der Welt war, und Lisabetta war acht Jahre alt.
Nach der Ankunft des Kindes war sie lange krank gewesen; und nachher redete sie es sich ein, daß ein Körper, der von den Chirurgen so zerschnitten worden war wie der ihre, zum Tanze nicht mehr tauge.
Und dann hatte sie acht der schönsten Jugendjahre, vom einundzwanzigsten bis zum neunundzwanzigsten Jahre, im häßlichsten und qualvollsten Lebenskampf verbracht. Sie war in verschiedenen Städten, kleinen und großen, umhergefahren, hatte Arbeit gesucht, manchmal auch gefunden. In München war sie Ladenmädchen in einem Handarbeitsgeschäft, in Leipzig war sie Verkäuferin in einem Zigarrengeschäft, aber nur aushilfsweise, in Hannover war sie Hausmädchen bei einer alten, geistesschwachen Dame. In Hamburg hatte sie einmal, da sie keine andre Arbeit fand, von Februar bis März Schnee geschaufelt. In Prag hatte sie keine Arbeit gefunden, dort war sie obdachlos in den Straßen umhergewandert, hatte in Bahnhofshallen und Wartesälen übernachtet. Dort geschah es auch, daß sie das erstemal in ihrem Leben für eine Nacht mit einem Herrn ging; das erstemal, daß sie so etwas ohne Liebe tat, nur aus Not, um ein wenig Essen und Wärme … In Budapest nahm sie die Zeitungskolportage auf, aber da sie in Ungarn nicht heimatberechtigt war, wollte man ihr nach kurzer Zeit keine Blätter mehr geben, außer sie hätte eine große Summe eingezahlt – und die hatte sie nicht.
Während all dieser Jahre war Teresina von ihrem kleinen Mädchen getrennt. Sie hatte Lisabetta bei den Schwestern in der Kinderhilfsstation und mußte jeden Monat das Kostgeld einschicken. Oh, welch schmerzensreiche Jahre hatte Teresina hinter sich!
Lisabetta war oft kränklich, und es kam vor, daß ein Telegramm sie erreichte, daß ihr meldete, daß Lisabetta schwer erkrankt sei, und sie dann irgendwo festsaß und kein Reisegeld hatte, um zu ihrer kleinen Tochter fahren zu können. In solchen Stunden verlor Teresina vor Kummer fast den Verstand, erst die Nachricht, daß es dem Kinde wieder besser gehe, brachte sie wieder zu sich.
Durch einen Zufall tanzte Teresina heute in der Stadt D.
Sie hatte eines Tages den Agenten Wunderwild getroffen, der sie vor acht Jahren „gemacht“ hatte. Nur war damals ihr eben begonnener Aufstieg rasch abgebrochen durch die Bekanntschaft mit einem der Wanderschauspieler, wie sie in der Agentur Wunderwilds ein und aus gingen. Und dieser Bekanntschaft verdankte auch die kleine Lisabetta ihr Leben. Herr Wunderwild hatte Teresina – auch diesen Namen gab er ihr vor acht Jahren – geraten, es wieder mit dem Tanz zu versuchen, und ihr vorläufig das dreitägige Gastspiel in der Stadt D. verschafft.
Teresina war in ihren Gedanken in die Hauptstraße gekommen. Sie stand auf dem großen Platze. Von einer Lichtzeile beleuchtet, las sie: „Casino de Paris“. Die Türen waren noch geschlossen. Jemand machte sie darauf aufmerksam, daß der Eingang vom nächsten Haustor aus durch den Hof sei.
Teresina irrte eine Weile in dem großen, finsteren Hofe umher. Ueberall lag der zergangene Schnee, und eine kalte Feuchtigkeit durchdrang sie bis ins Innerste. Endlich fand sie eine Tür mit der Aufschrift: Nur für die Mitwirkenden. Ein schmaler, kurzer Gang, eine enge eiserne Wendeltreppe. Zwei Armleuchter mit elektrischen Birnen erhellten den Weg. Sie stand vor einer eisernen Tür, hörte Lärmen, Sprechen, Gepolter, Klavierspielen. Sie stand einen Augenblick und horchte. Sie fühlte eine zaghafte Angst, heftiges Herzklopfen, gleich darauf kam eine eigentümliche Benommenheit über sie, wie unter der Wirkung eines leichten Betäubungsmittels; sie kannte diesen Zustand und wußte, nun würde sie fortan alles tun, ohne eigenen Willen, sie würde wie ein Mechanismus „gehen“, ein Ding, das durch eine Feder in Betrieb gesetzt ist. Sie klinkte auf und stand mitten auf der Bühne. Drei Herren und zwei Damen saßen herum. Sie stellten sich vor: der Herr Direktor, der Kapellmeister, der Komiker; die beiden Damen waren Sängerinnen.
„Ich bin die Tänzerin Teresina, ich soll heute um halb neun hier auftreten!“
Die Herren zeigten Liebenswürdigkeit, die Damen blieben kühl.
Teresina überreichte dem Kapellmeister ihre Mappe mit den Klaviernoten.
Es wurde ihr eine winzige Kammer als Garderobe angewiesen, ein kalter, schmutziger Raum, ohne Tür, mit einem schäbigen Jutevorhang.
„Sie können sich hier ankleiden und schminken“, sagte der Direktor. Ein Tisch, ein Spiegel, ein schadhafter Lehnstuhl und ein Dreibein standen in dem Raum. Eine große Blechkiste ohne Deckel stand auf dem Tisch, darin waren alte Schminksachen, Augen- und Lippenstifte, gelbe, rosa, lila Puder. Salben. Fette, Schmiere – ein abscheulicher Geruch nach ranzigem Tran und Unschlitt entströmte der Kiste. Teresina stellte sie auf den Boden in die Ecke, warf ein Tuch darüber.
Dann nahm sie aus dem Karton ihre eigenen Sachen und begann sich vor dem Spiegel zu schminken. Während sie ausgezogen im Leibchen stand, kam der Herr Direktor hinein – ohne vorher um Erlaubnis gefragt oder sich entschuldigt zu haben, sagte er im Befehlston: Beeilen! – Sie kommen als dritte Nummer; vorher will ich Sie sehen!“
Dann ging er wieder.
Teresina hatte drei Tänze und dreimal Kleiderwechsel. Zigeunertanz, Phantasietanz und slawischer Bauerntanz.
Teresina war blond, dunkelblond. Als Zigeunerin trug sie eine rabenschwarze Perücke.
Sie war fertig angekleidet; das rote Kopftuch, das sie sich in der Leidenschaft des Tanzes vom Kopfe zu reißen hatte, die Halbmondohrringe, das Tamburin, nichts fehlte. Jetzt hieß es noch ein lustiges, überschäumend lebendiges Gesicht einzustudieren, Augen und Zähne blitzen zu lassen daß es nur die Zuschauer so packen und sie toll machen sollte und sie rufen mußten: Eine echte Zigeunerin!
Teresina sitzt in der kalten Kammer. Sie ist müde und will nur noch eine kleine Weile ausruhen. Ihren Mantel hat sie sich um die Schultern gelegt.
An dem Lärm und der aufregenden Bewegung merkt man, daß das Haus sich füllt.
Teresina hat die Arme auf den Tisch und ihren Kopf darauf gelegt. Sie denkt an ihr kleines Mädchen bei den Schwestern. Als sie das letzte Mal dort war, hatte das Kind gesagt: „Mutter, ich weiß ja nicht einmal, daß du meine Mutter bist, weil du mir nie etwas mitbringst.“
Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht hatte Teresina wegen dieser Worte geweint.
Und jetzt kommt es wieder heiß und grauenvoll über sie, daß sie weinen muß.
Darauf muß sie ihr Gesicht aufs neue schminken.
Der Herr Direktor schiebt den Vorhang zur Seite. Ein Lichtstreifen fällt auf ihn. Sie sieht im engen schwarzen Gehrock seinen gemästeten Körper, den feisten Hals, den Kopf mit dem kurzgeschorenen grauen Haar, die verlebten Augen mit trüben, gierigen Blicken, die ungewöhnlich stark markierten Faltensäcke unter den Augen, die geblähten Nasenflügel und das starke Doppelkinn geben dem Gesicht das Aussehen eines schleichenden, feigen und tückischen Tieres. Er hatte eine von Gemeinheit satte Stimme; eine Komödianten- und Spekulantenstimme. Mit gerunzelter Stirn und hämisch dünn gezogenen Lippen sprach er:
Ich glaube, Ihnen gesagt zu haben, Sie sollen sich ansehen lassen. Aber wenn Sie denken, sich rar zu machen …“
Er ging.
Teresina erhebt sich, denkt nach. In ihr ist alles still und erstarrt. Nur ihr Herz schlägt in langsamen, dumpfen und schweren Schlägen.
Ach, es stand soviel für sie auf dem Spiel, sie mußte freundlich mit dem Direktor sein. Sie war in seiner Hand; in seiner Macht stand es, das „Gastspiel“ abzubrechen, wenn sie ihm nicht paßte, oder ihren Lohn zu verringern. Und ihr Traum, ihr einziger, goldener Traum war es, ein wenig Geld beisammen zu haben, um damit in die Stadt zu reisen, wo ihr Kind war, Lisabetta etwas mitzubringen.
Sie fürchtet, sie könnte den Direktor erzürnt haben. In ihrer Erregtheit stürzt sie die Wendeltreppe hinunter, das Tamburin mit den fliegenden roten Bändern in der Hand.
Im schmalen Gang begegnet sie dem Komiker.
„Wo ist der Direktor?“ fragt sie atemlos.
„Er erwartet Sie bei sich, die Tür geradeaus über den Gang. Hoha, Sie gehören schon ihm; Sie brauchen sich deshalb nichts einzubilden; jede Neue gehört ihm.“
Was? Teresinas geschminkter Mund steht offen. Ach ja; sie kennt das Leben. Aber das tut sie nicht. Nein. Unter gar keiner Bedingung.
Sie hört einen Ruf: „Teresina!“
Das ist er.
Er empfängt sie in seinem Zimmer; spricht sie mit du an. Redet wenig. Sein Arm streckt sich nach ihr aus. Er erwähnt es nebenbei, was sie ohnehin von dem Agenten Wunderwild wissen mußte, daß die Vergnügungsunternehmungen in den drei angrenzenden Städten sein Besitz waren.
Während er spricht, läutet es zum Beginn der Vorstellung.
Er steht auf, verläßt das Zimmer. Sie folgt ihm, geht hinter ihm her. Er betritt die Bühne, um in einer Ansprache das neue Programm anzukünden.
Gleich darauf erscheint die Dame, die ernste Lieder singt. Der Beifall ist mäßig. Teresina hört den Direktor sagen: „Also, die ist erledigt – sie zieht absolut nicht. Fort! Adjö.“
Dann kommt der Komiker.
Er singt das Lied vom Storchennest.
Die Leute lachen und klatschen; er muß die letzte Strophe wiederholen.
Dann spricht er das Melodrama: „Die Witwe.“ Wieder wird stark geklatscht, wieder lachen die Leute.
Zum Schluß kommt die Schnurre: „Fräulein, fallen Sie nur nicht um.“ Die Leute brüllen.
Dann eine Minute Stille.
Der Direktor meldet: „Es folgt die Tänzerin Teresina.
Sie klatschen schon im vorhinein. So etwas haben sie gern. Eine Tänzerin, das ist mehr als eine Sängerin, mehr als ein Komiker.
Teresina tanzt ihren Zigeunertanz.
Ihre Arme und Beine bewegen sich, ihr Körper tanzt; sie weiß nichts davon. Sie sieht dicken blauen Rauch im Saale, gedeckte Tische, Weinflaschen, Bierkrüge, dampfende Speisen … Und viele Augen sehen sie an.
In der Pause, während sie sich umkleidet, spielt der Pianist. Sie hört es gedämpft in ihrer Garderobenkammer …
Sie tanzt den Phantasietanz und zum Schluß den slawischen Bauerntanz,
Nachher sitzt sie müde, verloren und verwirrt in der Kammer und schminkt sich ab.
Sie hatte erwartet, nach dem ersten Tanz das Geld zu bekommen. Sie wollte am schnellsten in ihr Gasthauszimmer kommen, um zu schlafen.
Sie friert, und nicht allein aus Kälte klappern ihre Zähne. Auf einmal ist es ihr, als säße sie in einer Falle gefangen.
Wieder hat der Herr Direktor den Vorhang beiseite geschoben.
Er reichte ihr das Geld. Sie sieht es an.
Es stimmt nicht.
„Ich habe nicht mehr in der Kasse.“
Das war eine faule Ausrede.
„Ich habe Auslagen …“, begann sie.
„Sie bekommen das übrige morgen abend.“
Sie stand unschlüssig.
„Wenn es Ihnen beliebt“, sagte er, „können Sie mit mir in meine Wohnung kommen. Es ist nicht weit. Ihre Leistung war nicht schlecht, aber auch nicht gut. Es mangelt Ihnen vollständig an Technik und Temperament. Trotzdem will ich Sie für die umliegenden Städte, in denen ich Unternehmungen habe, engagieren.“
Sie sah ihn an, um zu ergründen, wie er es meinte. Aber da kam schon die Erklärung aus seinem Munde.
„Selbstverständlich werden Sie wissen,unter welchen Bedingungen.“
Ach ja, sie wußte. Hundertmal hatte sie diese Sätze aussprechen gehört.
Für sie gab es nichts zu überlegen. Ueberall lungerten hungernde Arbeitslose, Männer und Frauen, herum, die alles annahmen, was sich fand.
Sie schlug die Hände vors Gesicht… Mit ihrem letzten bewußten Denken suchte sie einen Ausweg.
Es war keine Arbeit zu finden, und jede, die man fand, war mit soviel Erniedrigung, Ausbeutung und Unmenschlichkeit verbunden. Man war aber nun einmal da, und wenn man sich nicht vertilgen wollte, mußte man leben.
„Herr Direktor“, sagte sie – in ihrer Stimme zitterten Ekel und Grauen; sie warf den Kopf zurück, starrte wie eine Irre, so daß der Direktor einen Schritt zurückwich – „ich nehme Ihren Antrag an.“
„Dann ist es recht“, sagte er, „dann können wir gehen.“
Leise, fast unhörbar, formten sich auf ihren Lippen die Worte: „Es ist das zweitemal, daß ich so etwas ohne Liebe tue; das erstemal tat ich es aus Not, ebenso wie heute.“
Sie wußte nicht, hatte sie diese Worte laut ausgesprochen, denn sie hörte den Direktor heftig lachen, er verprustete sich vor Lachen.
Dies schien ihr die grauenhafteste Minute ihres grauenhaften Lebens.
Es war, als ob jemandem, der ins Wasser sprang, um sich zu ertränken, ein zynischer Witz nachgerufen worden wäre.