Artikel von Viktor Polzer für die „Neue Freie Presse“, abgedruckt am 11. September 1931
Auf der Höhe des Kreuzberges, eine Wegstunde etwa oberhalb der Station Breitensteim am Semmering, im Angesicht der Rax, liegt des Dichters Landhaus. Das Auto des Orthof-Wirtes bringt den Besucher in zehn Minuten am Sanatorium Breitenstein vorbei auf die Paßhöhe, von der in weiten Windungen die Straße nach Edlach hinunterführt, und in weiteren fünf Minuten nach Hofstatt auf der Kreuzberghöhe, einer Häusergruppe von vier bis fünf Villen. Dort liegt „Haus Mahler“, von Gustav Mahler einst erbaut, heute Sommersitz Franz Werfels und seiner Gattin Alma Mahler-Werfel.
Wir schreiben August, und eine derartige Bärenkälte herrscht in diesem Sommer, daß der erste Weg ins Wohnzimmer führt, dessen eine Längsseite von einem riesigen, in rustikaler Art erbauten Kamin eingenommen ist – mächtige Holzscheite glühen auf dem Rost und täuschen Winterbehaglichkeit vor. Ein getriebenes indisches Räuchergefäß, einer prunkvollen Kochkiste vergleichbar, steht vor dem Kamin. Aber der Dichter vermerkt scherzend, die orientalische Ruhe besitze er nicht, auf das Warmwerden dieser Kiste zu warten.
Auf dem Flügel liegen aufgeschlagene Partituren italienischer Opern. Der Dichter des „Verdi“ hat eben in Ponchiellis „Giaconda“ eine Stelle aufgesucht, die einer Szene seines neuen, im Herbst erscheinenden Romans „Die Geschwister von Neapel“ zum Motiv dienen wird. „Atro potente!“ liest er laut, und unwillkürlich nimmt seine helle, starke Stimme Sangesweise an und mit Rhythmik und Gebärde stößt er die Schlußphrase hervor: „Gloria di questa e delle età future.“ Musikalität ist Franz Werfels zweites Lebenselement, und so ist eigentlich seine ganze Dichtung nur aus der Musik heraus zu verstehen – ein Thema für künftige Dissertanten.
Die Stelle ist gefunden und Werfel geleitet den Besucher in sein Arbeitszimmer. Zimmer? Zwei Treppen hoch, dicht unter dem Dach, liegt eine Art Atelier, erst ein finsterer Vorraum, dann ein riesengroßes Gelaß – anders kann man es nicht nennen. Glatte, kahle Holzwände, ein Stuhl, ein Schreibtisch, das ist alles. An den Wänden hängen drei große Theaterplakate – Uraufführungen von „Juarez und Maximilian“, „Paulus unter den Juden“ und vom „Reich Gottes in Böhmen“. Vor dem breiten Atelierfenster liegt das ganze Massiv der Rax. Hier oben, wo an heißen Sommertagen die Hitze geradezu Dämpfe ausbrütet, im heutigen August die Kälte durch die Ritzen fährt, hier, und nur hier, sitzt der Dichter und arbeitet. Bis zwei, bis drei Uhr morgens, bis das Thermometer bloß ein paar Grade über Null zeigt. Aber nur dieses Zimmer scheint ihm völlige Sammlung zu geben.
Wunderbare Wirkung des Kontrastes. Hier, angesichts der Raxwände, entwirft der Dichter seine farbensatten Gemälde von Venedig und Neapel. In Venedig, seinem Winteraufenthalt, entstehen Romankapitel und Erzählungen aus seiner böhmischen Heimat Prag. Wer Venedig kennt, wird wohl per Gondel durch endloses Gewirr kleiner Lagunen zur Kirche „Santa Maria bei Frari“ gefahren sein. Birgt sie doch unter vielen Köstlichkeiten Tizians und Canovas Grabmal, Giovanni Bellinis thronende Madonna und das herrliche Barockgrabmal des Dogen Giovanni Pesaro, des Türkensiegers. Unweit davon, im Bezirk San Polo also, wohnen Werfel und seine Gattin im Winter.
Der Dichter schlägt sein Manuskript auf. Das Wort „Manuskript“ gewinnt seine ursprüngliche Bedeutung wieder. Vierhunderneunzig Seiten, eng beschrieben, in des Dichters steiler, deutlich-markiger Schrift, aus der die Großbuchstaben hervorspringen wie gemalte Initialen. Ein Maltrieb zwingt ihm auch beim Kapitelbeginn den Buntstift in die Hand und rot oder grün entsteht das erste Wort jedes Kapitels. Ein Graphologe hätte seine Freude an dieser Schrift. Und so schreibt Franz Werfel in monatelanger Arbeit jedes Werk mit der Hand aus, ein erstes, ein zweites, ein drittes Mal, bis zur letzten druckfertigen Fassung. Das bedeutet allein etwa fünfzehnhundert Schreibseiten bei seinem neuen Roman „Die Geschwister von Neapel“ und etwa achtzehnhundert bei seiner „Barbara“. Eine Höllenarbeit, rein mechanisch gesprochen, und man versteht den Arbeitsschluß um 3 Uhr morgens. Aber der Dichter, dem der Weg vom Kopf durch den Arm zum Papier schon zu weit ist, verabscheut den weiteren durch den Kopf und Arm einer Sekretärin. Die erste und einzige Beurteilerin während der Arbeit, die erste Leserin jedes neuentstandenen Kapitels ist seine Gattin.
Wer aber Kapistenarbeit in der zweiten oder dritten Werkfassung sähe, würde gewaltig irren. Werfel überträgt ein Kapitel aus der ersten Gestaltung. Plötzlich stockt er. Ein einzelnes Wort scheint ihm eine neue Motivierung nötig zu machen, eine völlig neue Perspektive zu eröffnen. Er springt auf, Im Umherwandern entsteht ihm ein neuer Absatz, eine ganz neue Szene, sie wird zu Papier gebracht und so ist die letzte Fassung allerdings um etliches reicher als es die erste war. Das fertige Druckmansukript läßt sich der Dichter nach Erscheinen des Werkes in einen Imitationsband, der die Buchausgabe nachahmt, binden, und so stehen die dezimeterdicken Wälzer in Reih und Glied in seiner Bücherei, ein oder der andere in der Nationalbibliothek, die ihn um die Kuriosa solcher wahrhafter Handschriften bat. Noch während des Satz- und Druckverfahrens wächst dem Werk hier eine Phrase, dort eine neuartige Wortblüte zu, wie auch strengstes künstlerisches Gewissen den Dichter immer wieder zur Umarbeitung seiner Werke und zur sorgfältigen Revidierung jeder einzelnen Neuauflage treibt. Die Meisternovelle „Kleine Verhältnisse“, zunächst einmal in einem Almanach veröffentlicht, wurde in der Buchform um fast ein Drittel stärker und die Volksausgabe des „Verdi“ ist Wort um Wort, Seite um Seite neu durchgearbeitet.
Trotzdem wäre es grundfalsch, von Franz Werfel das Bild eines Boßlers, Grüblers, Analytikers zu gewinnen. Alles eher als das. Er, der glühende Verehrer Verdis und alles Südländertums, schafft stets unter einer Art von Furor und Hochdruck, und einer Deutung einer oder der anderen Szene begegnet er stets mit großen erstaunten Jungenaugen, die sich dankbar freuen, daß so etwas möglich sei, aber nie im Leben daran gedacht haben.
Aehnlich ergeht es dem neugierigen Frager, der Autobiographisches, Selbstporträts und dergleichen in des Dichters Werken vermutet. Freilich, Werfel lebt und webt in seiner eigenen Vergangenheit („Der Abituriententag“, ein Beispiel für viele) und seine Barbara ist eben seine Barbara. Aber schon jeder, der den glühenden Vaterhaß in „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ auf persönliche Erlebnisse bezog, mußte beschämt abziehen, und wer dennoch heuer versucht wäre, in dem haßgeliebten, sittenstrengen Vater Domenico Pascarella der „Geschwister von Neapel“, der seinem ältesten Sohn Placido ein aus der Universitätsbibliothek entliehenes Werk aus der Hand reißt und es an die Wand schleudert, wer also versucht wäre, in ihm Werfels eigenen Vater in den sechs Geschwistern Pascarella, drei Brüdern und drei Schwestern, seine eigenen Geschwister zu sehen, der müßte ebenso erfahren, daß Werfel überhaupt keinen Bruder, bloß zwei Schwestern besitzt und sein Vater ein äußerst gütiger, sanfter Vater war, der sich vor Vergnügen die Hände gerieben hätte, hätte er seinen Sohn jemals vor einem Buch der Universitätsbibliothek gesehen. Mit schalkhaftem Augenzwinkern sagt dies der Dichter.
In Wirklichkeit waltet dort freies, freiestes Spiel der Phantasie, wo neugierige Betrachter Komplexe und Verdrängungen vermuten. Gestalten, rundum gesehen, erstehen vor dem Auge des Schöpfers, und oft war’s nur ein einzelnes erinnerliches Wort, eine kurze Begegnung oder eine freimütig dem Frager berichtete Episodenszene, die Keim und Anlaß war für ein neues Romankapitel oder für ein ganzes Werk.
Ein Pochen an der Tür lenkt von der Arbeit ab. Eine kleine alte Frau trägt einen Imbiß auf. Uraltes verrunzeltes Gesicht, verhuzelte Gestalt, weißes Häubchen um die schneeweißen Haare. Schon vorsichtig geworden und gewitzigt, kann man doch nicht verhindern, daß der Blick von der Alten auf den Buchtitel „Barbara“ gleitet. Aber der Dichter amüsiert sich bloß. Nein, die alte Köchin sei bestimmt nicht Barbara, die mütterliche Heldin seines gleichnamigen Romanes. Freilich, die Barbara habe es schon wirklich gegeben, eigentlich zwei, drei Barbaras, aber mit weiterem will er nicht herausrücken. hat er nicht recht? Wozu auch? Wie dürftig wäre ein Abbild, das eines Vorbildes bedürfte?
Die Uhr schlägt sieben. Von unten mahnt das Auto zur Bahnhofsfahrt. Draußen ist’s noch kälter geworden, aber ein wolkendurchschnittener Mond tritt am reineren Himmel hervor. In der Dämmerung liegt die Rax in ihrer zauberhaften Schönheit. Abschied von der Hausfrau, der Dichter tritt zum Lebewohl unter die Säulen des Vordaches – ohne Mantel, ohne Hut, seine Mansarde hat ihn abgehärtet. Er winkt dem Auto nach, ein elektrisches Licht flammt beim Gartenportal hoch, dann nimmt das Waldesdunkel den Wagen auf.