Auszug aus Klaus Manns Erinnerungen an seine Kindheit, abgedruckt in „Die Bühne“, Heft 330, 1932
Klaus Mann, der sechsundzwanzigjährige Sohn des Dichters Thomas Mann, gehört zur interessanten Jugend heutigen deutschen Schrifttums. Er ist ein Wunderkind seiner Art, als Literat von interessanter Vielfalt, hat bereits eine Menge Bücher geschrieben und gibt jetzt die Erinnerung an seine Kindheit unter dem Titel „Kind dieser Zeit“ heraus. Das amüsante und aufschlußreiche Buch, das viel aus der Geschichte des Hauses Mann erzählt, erscheint im Transmare-Verlag, Berlin.
Es muß im Sommer 1918 gewesen sein, als in unserem Hause etwas passierte, was uns mehr erschütterte und erregte, als die große, offizielle Revolution, die sich ein paar Monate später in der Öffentlichkeit begab: es war die Revolution in unserem Hause, unsere private Revolution, der Umsturz von Werten, die unverrückbar für uns gewesen waren. Denn die Person, die wir Affa nannten, gehörte zum Hause, ja, zur Familie, mehr als eine der vielen Kinderfräuleins, die wir je gehabt, mehr als Köchin, Hausmädchen oder irgendwer sonst. Sie gehörte in eben dem Grade dazu, wie die Eltern oder die Geschwister, denn sie war einfach immer dagewesen. Sie genoß das vollkommene Vertrauen, das man ganz selbstverständlich Dingen entgegenbringt, die einen unseres Lebens ausmachen. Ich glaube, Affa war schon Zimmermädchen bei uns, als ich geboren wurde.
So steht Affa in meiner Erinnerung: oft von einer Heiterkeit, die ich heute, zurückblickend, etwas laut, forciert und hysterisch nennen muß – damals fanden wir nur, daß sie die schönsten Faxen von der Welt machen könnte -; oft mißgestimmt und dann von unberechenbarer Empfindlichkeit; Affa, mit festlich erhitzten Wangen und lebhaften, grünen Augen, die herausfordernd blitzen konnten; üppig, stolz und gewandt; befreundet mit Offizieren und Apothekern; herrschsüchtig, verwöhnt und unentbehrlich. Sie war es, die beim Rodeln auf dem Berg den riesengroßen, plumpen, grünen Schlitten benutzte, und wild grimassierend mit dem unvergleichlichsten Gesicht zu Tale sauste; sie allein konnte uns abends mit den prachtvollsten kleinen Einfällen amüsieren, indem sie erzählte, daß Erika einen schwarzen und schlanken Baron heiraten würde, vormachte, was Mielein für ein Gesicht machte, wenn sie mit der Fanny den Speisezettel beriet oder wenn sie das hübsche Lied von Eduard Biermöller, dem feschen Klavierspieler, trällerte – „blond, mit gescheiteltem Haar“. Am meisten glänzte sie, wenn wir Gesellschaft hatten; sie war Meisterin darin, den Tisch mit Blumen zu zieren, und alle Gäste bestrickte sie durch ihr verständiges und warmes Wesen. Die Gäste meinten, daß sie „eine Perle“ sei. Mein Vater sagte, sie sei die perfekte Festordnerin.
Gelegentlich geschah es, daß die anderen Dienstboten vor ihr warnten: sie spreche unehrerbietig, ja, gehässig von der Herrschaft; manche gingen so weit, ihre Ehrlichkeit zu bezweifeln. Affa konnte sich über solche Verdächtigungen weit erhaben fühlen. Mit bösem und hochmütigem Gelächter wies sie derlei von sich.
Während des Krieges wurde das Glitzern in ihren grünen Augen renitenter und aufsässiger. Sogar in unserer Gegenwart machte sie Bemerkungen über die Eltern, die wir unbegreiflich fanden. Inzwischen warnte auch die Köchin immer eindringlicher vor ihr. Immer wieder mußte meine Mutter hören, daß Affa stehle. Natürlich glaubte kein ernsthafter Mensch daran einen Moment. Eigentlich mehr, um die verleumderische Köchin zum Schweigen zu bringen, ließ meine Mutter sich eines Nachmittags, als Affa ausgegangen war, ihr Zimmer öffnen (es war verschlossen, wahrscheinlich benutzte man einen Dietrich). – Was fand sich?
Es war ein Warenlager, das sich fand. Alle Gegenstände, die im Laufe der letzten Jahre im Hause verlorengegangen waren – und meine Mutter glaubte, viel verloren zu haben, da sie eher zur Unordnung neigte -, fanden sich aufgeschichtet, gestapelt, übereinandergeworfen in Affas Schrank und Kommode, ja, noch unter dem Bett. Sie hatte in einer solchen Passion einer solchen Besessenheit gestohlen, daß nicht nur Tischdecken, Rotweinflaschen, Teelöffel, Blumenvasen und Luxusausgaben toter sowie lebender Autoren, sondern auch Nagelpferdchen, Spielpferdchen, Kragenknöpfe – nach denen man händeringend gesucht – und Nadelkissen aus der Dunkelheit ihrerr Verwahrung ans Licht gehoben wurden.
Wir wohnten dieser Szene des Zimmeröffnens nicht bei, aber es muß eine Szene großen Stils gewesen sein. Welch ungeheuerliche Überraschung im Gesicht meiner Mutter, welcher Triumph in den Mienen der Köchin! – Aber geradezu mythisch-katastrophalen Charakter gewann in unserer Überzeugung die Szene, welche nun folgte: denn Affa, die, nach Hause kommend, sehen mußte, wie man in ihrem, mit so viel listigem Fleiß zusammengetragenen Lager stöberte, geriet in einen wahren Rausch von Habgier und Wut: mit unserem Vater, der selber ins Kellergeschoß geeilt war – was so selten geschah – rang und haderte sie um jedes Stück: von jedem behauptete sie, daß es ihr, ihr ganz allein gehöre; der Rotwein war ein Geschenk ihres ersten Bräutigams aus Paris, die Handtücher alte Erbstücke, und nur zufällig mit unseren Initialen gezeichnet; wir waren es, die sie bestehlen wollten. – Wir oben, im Eßzimmer, hörten den schrecklichen Lärm der Erwachsenen, die wir bis dahin doch nur so höflich miteinander hatten reden hören. Wir zitterten: es war ein Streit der Götter, ein Aufruhr der oberen Mächte; mindestens etwas wie der Trojanische Krieg. Man hätte die Polizei nicht geruften, nur Affas tolles Gehaben zwang dazu. Vom Schutzmann begleitet, fuhr man in die Wohnung von irgendeiner Verwandtschaft Affas, wo, den Angaben der Köchin zufolge – denen man nun doch anfing zu glauben – noch allerlei zu finden sein würde, was Affa in unserem Hause zusammengerafft hatte. Man fand noch die erstaunlichsten Dinge; von Blumenvasen bis Sardinenbüchsen, alles, was Affa irgend nützlich oder hübsch gefunden, alles, was ihrer umsichtigen Kleptomanie irgend in die Hände gefallen war – ja, sogar einen japanischen Fächer, den ich während meiner großen Krankheit geschenkt bekommen hatte und der mir dann abhanden gekommen war. Ich hatte ihn unter Tränen gesucht. Tagelang; Affa aber hütete ihn wohl. –
Abends kam sie noch einmal für eine halbe Stunde in unser Haus, um ihren Koffer zu packen. Sie verließ uns, fürchterliche Racheschwüre auf den Lippen. Uns Kindern war verboten, noch einmal mit ihr in Berührung zu kommen. Während sie unten unsere Familie verfluchte, saßen wir erschüttert oben an den Arbeitspulten.
Etwas Ungeheuerliches, etwas für uns absolut Neues war geschehen: Affa, von der wir glaubten, daß sie für uns sorgte, hatte uns bestohlen. Affa, von der wir angenommen hatten, daß sie uns so gerne habe, wie wir sie, haßte uns also; unsere Feindin Affa, die nicht nur unsere Freundin, sondern beinahe ein Teil von uns gewesen war. Affa, die wir für „gut“ gehalten hatten, war „böse“. – Wenn so etwas möglich war, dann konnte ja alles passieren, dann stand nichts mehr fest. – Es stand nichts mehr fest. –
Auch der Gerichtsverhandlung gegen Affa, die einige Monate später stattfand, wohnten wir selbstverständlich nicht bei; auch sie ist reiner Erinnerungs-Mythos, unkontrollierbare Legende. Diese Legende hält fest, wie Affa, in praller, giftgrüner Atlasbluse, die Wangen festlicher erhitzt denn je, vor den Richtern erschien; wie sie es war, die sich das Vertrauen der Münchener Beamten und des Zuschauerraumes durch sowohl siegesgewisses als demütiges und verführerisches Wesen gewann, während meine Eltern, als „landfremd“ wirkende Intellektuelle, mehr Mißtrauen als Sympathie erweckten. Es fehlte nicht viel, daß sie die Angeklagten wurden. Affa, in großer Form, berauscht vom Hochdramatischen des Augenblicks, wußte die Situation so zu wenden, daß schließlich sie es war, die als die Geschädigte, Ausgebeutete und dann auch noch Verleumdete dastand; von einer ruchlosen Herrschaft mißhandelt, ja, der Herr des Hauses hatte sie gar nicht selten geschlagen -; in einer schauerlichen Bohèmewirtschaft ständig nahe dem Hungertode. Alles, was hier auf dem Tisch ausgebreitet lag – unsere Spielsachen und die Bücher unseres Vaters, hatten ihr immer gehört, oder sie hatte es von uns zu Weihnachten geschenkt bekommen. Der Haß machte sie genial; sie log prachtvoll. Außerdem kam ihr die Zeitstimmung und die Atmosphäre des Ortes entgegen: In den ersten Monaten nach der Revolution hatte man für Angehörige der dienenden Stände vor deutschen Gerichten vielleicht mehr Sympathie und Zutrauen, als für die, welche man für Kapitalisten hielt – ein Zustand, der sich nur zu schnell wieder geändert hat -; und zudem ist ein „Schriftsteller“ für ein Münchener Gericht kaum jemals eine populäre Figur gewesen. Man glaubte lieber der rüstigen Person, die bayerisch sprach und augenscheinlich so viel gelitten hatte. – Affa wurde freigesprochen, es fehlte nicht viel und man hätte sie in ihrer grünen Atlasbluse im Triumph aus dem Saal getragen. Unsere Eltern fürchteten, gelyncht zu werden, so gereizt war gegen sie die Stimmung. – Daß ich nicht dabei sein durfte, als Affa, von ihrem Sieg zu einer Stattlichkeit gebläht, die ihre sonstige Pracht bei weitem übertraf, das Gerichtsgebäude verließ! Aber ich sehe sie, erhitzt und selig lächelnd, ihren Bekannten die Hände schüttelnd, wie eine Operndiva nach dem großartig geglückten Galaabend.
Die imposante und erregende Episode „Affa“ war mit diesem Knalleffekt nicht abgeschlossen. Wenn auch nicht mehr ganz wie ein lebender Mensch, so doch noch als Gespenst, das einem viel zu schaffen macht, geisterte sie gräßlich weiter durch unser Leben. – Nach ihrem großen Tag vor Gericht ging es wahrscheinlich schnell abwärts mit ihr. Ihre Neigung zu einem guten Tropfen und zum starken Geschlecht – zwei Leidenschaften, denen sie schon bei uns ohne gar zu große Hemmungen gefrönt hatte – ergriffen, wie es scheint, immer radikaler von ihr Besitz. Wie tief sie sank, wissen wir nicht, aber das Ärgste zu vermuten, haben wir Anlaß. Ihr fanatischer Haß auf uns war sicher ihre letzte, rein geistige Leidenschaft. Zweifelsohne war sie der Ansicht, daß wir durch Bosheit ihren Absturz verschuldet hätten, und es ist mir heute noch unheimlich, zu denken, daß sie mit diesem unverrückbaren und wilden Glauben im Herzen ihren Weg zu Ende geht, den ich mir bitter vorstelle.
Reich an Zügen, bedeutungsvoll und gewaltig, steht so Affa im Legendenbuch unserer Kindheit: Affa, die die Feste arrangierte und uns mit den Faxen ergötzte; Affa, um die Damasttücher und das Likörservice ringend; Affa, in der grünen Bluse ihres Galatages; schließlich sinkend von Stufe zu Stufe (oder sich steigernd, wie es uns heimlich schien): von der Diebin zur Mörderin entwickelnd; zur großen Rachsüchtigen, zur Gefahr der nächtlichen Gasse; zum Unhold, der, mit dem breiten Messer in den Mantelfalten, unter dem Schatten des Kastanienbaumes lauert, wenn wir nach Hause kommen am Abend.