Gedicht, Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, 1928
Unter welchen vier Pseudonymen veröffentlicht Kurt Tucholsky in der „Weltbühne“? In wessen Augen gilt er als früher Warner vor dem aufkommenden Nationalsozialismus? Was darf Satire?
Kasper Hauser. Peter Panter. Theobald Tiger. Ignaz Wrobel. Journalist. Herausgeber. Satiriker. Gebrauchslyriker. Kabarettautor. Liedtexter. Romanautor. Literaturkritiker. Filmkritiker. Musikkritiker. Gesellschaftskritiker. Sozialist. Pazifist. Antifaschist, eindringlich vor der Bedrohung des aufkommenden Nationalsozialismus warnend („Ein kleiner dicker Berliner wollte mit einer Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten.“ – Erich Kästner). All das vereint Kurt Tucholsky in seiner Person.
So ist es kein Wunder, dass ich mich mit der Wahl des vorzustellenden Werkes schwer tat, eine Wahl getroffen und sie mitunter Tag für Tag verändert habe. Es kam einfach viel zu viel in Frage:
Sollte ich die Erzählung Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte vorstellen, mit der sich Tucholsky 1912 mit einem unbekümmerten, neuen, frischen Schreibstil bei einem größeren Publikum bekannt macht?
Einen Artikel aus der Schaubühne (das Wochenblatt wurde am 4. April 1918 in Die Weltbühne umbenannt) herausgreifen, in der je Ausgabe üblicherweise zwei bis drei Artikel Tucholskys zu finden waren (im Übrigen ist das die Erklärung für seine vielen Pseudonyme: die Zeitschrift sollte nicht zu Tucholsky-lastig erscheinen)?
Ich hätte mich für Schloß Gripsholm entscheiden können, diesen leichten, unbeschwerten, im Ton einem schwedischen Sommer ähnelnden Kurzroman, der 1931 bei Rowohlt erschien. Oder für seine gesellschaftskritische Textsammlung Deutschland, Deutschland über alles, in der er 1929 einen politischen „Reiseführer“, ein „Bilderbuch“ zur Lage von Staat und Nation verfasste und dabei dass Kunststück fertigbrachte, all das, was er an Deutschland in dieser Zeit hasste mit einer Liebeserklärung an sein Heimatland zu verbinden.
Sollte ich darauf verweisen, dass er sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten weigerte, publizistisch tätig zu sein? Dann hätten wir uns mit dem umfangreichen Briefwechsel des „aufgehörten Deutschen“ und „aufgehörten Dichters“ (Tucholsky über Tucholsky) mit seinen vielen Freunden auseinandergesetzt. Oder für sein dreistrophiges Gedicht Ideal und Wirklichkeit (es treibt mir jedes Mal, wenn ich es lese, vor Lachen die Tränen in die Augen)?
Auch wenn ich mich dagegen entschieden habe, es hier zu besprechen, möchte ich dir die erste Strophe dieser großartigen Gebrauchslyrik vorstellen:
In stiller Nacht und monogamen Betten
denkst du dir aus, was dir am Leben fehlt.
Die Nerven knistern. Wenn wir das doch hätten,
was uns, weil es nicht da ist, leise quält.
Du präparierst dir im Gedankengange das,
was du willst – und nachher kriegst das nie …
Man möchte immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke –
C’est la vie –!
Entschieden habe ich mich letztendlich für das Gedicht Zehn Jahre deutsche Republik, einer kritischen gesellschaftlichen Bestandsaufnahme:
Wir haben den Laden übernommen
im Ausverkauf! im Ausverkauf!
Die Fürsten sind uns abhanden gekommen –
im Nurmi-Lauf! im Nurmi-Lauf –
Wir sind eine Republik.
Was sollen wir Ihnen sagen?
Wir bitten Sie, das unserem Vorgänger geschenkte
Vertrauen auch auf uns zu übertragen!
Bist du glücklicher? du Arbeiterfrau?
Bist du glücklicher? Bergmann im Schacht?
Ist dir wohler? Mann im Gefängnisbau?
Hat euch allen die Republik etwas gebracht?
Wir sind eine Republik.
Mit schwarz-weiß-roten Schnüren …
Wir bemühen uns, das Geschäft streng im Sinne
seines Begründers zu führen.
Da gibt es Richter, die sind schlimmer als die unterm Kaiser.
Da regiert die Industrie, toller, als vor dem Krieg.
Da gibt es Junker – wie immer unter dem Kaiser –
da erficht die Kirche einen Sieg und noch einen Sieg.
Wir sind eine Republik.
Mit Hilfe der Sozialdemokraten
halten wir uns die alten Kommißsoldaten –
Die Revolution findet wegen schlechten Wetters im Saale statt –
Wohl dem, der solch eine Republike hat!
Immer herein! Eintrittsgeld nach Belieben!
Wir haben die Firma gewechselt. Aber der Laden ist der alte
geblieben.
Tucholsky zieht nach zehn Jahren Demokratie in Deutschland ernüchtert Bilanz: Nach wie vor trägt die Republik die Farben des Kaiserreichs, die Besitzverhältnisse haben sich nicht geändert, das Kapital agiert ausbeuterischer als vor dem Krieg. Eine Justiz, die ihren Namen nicht verdient (als Prozessbeobachter in Verfahren gegen rechtsradikale Mörder stellt Tucholsky fest, dass die Richter mit den nationalistischen Ansichten der Angeklagten sympathisieren). Dazu eine Sozialdemokratie, die mit der Reaktion im gleichen Bett liegt.
Bereits 1919 sagt Tucholsky: „Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.“ Weiterführend fragt er sich: „Was darf die Satire?“ Seine Antwort: „ALLES.“
Eine 20-bändige Gesamtausgabe Tucholskys ist über den Rowohlt Verlag bzw. über jede Buchhandlung zu beziehen. Viele weitere Verlage legen gebundene und Taschenbuchausgaben vor.
Das Kurt-Tucholsky Literaturmuseum finden Sie in Rheinsberg. Ebenfalls empfehlenswert, da mit vielen Informationen zu Leben und Werk des Autors versehen, der Besuch der Internetseiten der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft.