Besprechungen der Romane „Rechts und links“ und „Hiob“ in der CV-Zeitung, Ausgabe vom 28. November 1930
Unter den Schriftstellern der jüngeren Generation tritt Joseph Roth allmählich in die vorderste Reihe. Als einer der ersten Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“ ist er, nicht zu seinem Schaden, durch die Schule des Journalismus gegangen. Dem Korrespondenten der „Frankfurter Zeitung“ steht eine Sprachkraft, eine Fülle des Ausdrucks zur Verfügung, die gerade die kleinsten Dinge, Landschaften und Stimmungen zu eindrucksvollen Bildern werden läßt. Den Menschen steht er in seinen ersten Büchern mit einer erstaunten und etwas gereizten Neugier, mit der Kühle des Beobachters gegenüber. Nicht umsonst nennt er einen seiner ersten Romane einen „Bericht“ und eine Sammlung von Reportagen und Eindrücken „Panoptikum“: er liebt die kleinen Dinge, die Tiere und einfachen Menschen, aber die Menschen in Masse sind unwirklich, Wachsfiguren mit einem komplizierten seelischen Mechanismus – Marionetten. Dahinter schwebt unsichtbar immer die Frage: wozu das alles? So reißt er aus einer farbigen Welt einzelne Stücke, Landschaften und Menschen heraus, gestaltet sie zu farbigen Bilderbogen um, aber zusammen bleiben sie ein fragmentarisches Bild einer fragmentarischen Welt.
Es ist nicht erstaunlich, daß sich dieser kühl neugierige Pessimismus glänzend bewährt in der Schilderung einer Zeit, die ihm entspricht. So ist Roths Roman „Rechts und links“ (Verlag Kiepenheuer) nicht nur zur Darstellung, sondern sozusagen zur Selbstschilderung der Nachkriegszeit und der Inflationsjahre geworden, ein wirkliches Bild dieser Zeit, die heute schon niemand mehr begreift.
Dieser Paul Bernheim, Sohn eines reichen bürgerlichen Hauses, der eine Zeitlang in Oxford erzogen worden ist, bringt es fertig, gleichzeitig gewissenhafter Verpflegungsoffizier und gerissener Revolutionär zu sein, gleichzeitig und nacheinander in die Seelen eines begeisterten Offiziers, eines gewandten Kunsthistorikers, eines gerissenen Geschäftemachers, eines Enthusiasten, eines Selbstmörders und eines Charmeurs zu schlüpfen, sein Bruder, der zuerst Revolutionär vom Schlage der Fememörder und dann demokratischer Redakteur ist, der Inflationsgewinnler Brandeis – all diese Figuren haben sozusagen einen doppelten Boden, und die unwahrscheinlichste wird fast zur glaubwürdigsten, weil die Welt sinnlos und unglaubwürdig erscheint. Dabei geschieht nichts Geheimnisvolles, alle Einzelheiten, Menschen, Gespräche sind scharf und präzis beobachtet und geschildert, die Landschaft atmet und lebt, – nur das Ganze verfließt in einer Unwirklichkeit, die durch die Wahrheit des einzelnen doppelt schemenhaft und gespenstisch wirkt.
Man konnte auf das nächste Buch eines solchen Autors gespannt sein. Aber Joseph Roths „Hiob“ (Verlag Kiepenheuer) übertrifft jede Erwartung: es gehört zu den seltenen, beglückenden Meisterwerken! Denn in diesem „Roman eines einfachen Mannes“ hat Joseph Roth sein eigenes Herz und mit ihm den Menschen und die Wirklichkeit entdeckt, eine Wirklichkeit, die um so lebendiger wird, weil sie die Wirklichkeit der Legende ist. So darf er es wagen, den Namen eines biblischen Helden über die Lebensbeschreibung des Lehrers Mendel Singer zu setzen, der in einer kleinen russischen Stadt mit seinem Weib Deborah lebt, wie tausend andere auch, „fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich“, arm, genügsam und zufrieden. Denn in dem einfachen Leben dieses armen Lehrers steckt ein Sinn. Und wie Joseph Roth Tiere und Landschaften liebte, so hat er diesen seinen Helden lieben gelernt, obwohl (oder weil) in dessen Leben so wenig Außergewöhnliches vorfällt.
Mendel Singer hat wenig Freuden und viel Sorgen: die größte ist sein jüngstes Kind Menuchim, ein geistig zurückgebliebenes, epileptisches, ungestaltetes Wesen. Sein ältester Sohn wird zum Militär eingezogen, der jüngere, Schemarjah geht nach Amerika, wird innerlich und äußerlich sehr schnell zu einem Sam und holt die Eltern mit der Schwester Miriam zu sich, der jüngste muß zurückbleiben. Drüben scheint es besser zu gehen, Sam kommt vorwärts. Aber Deborah stirbt. Sam fällt im Krieg, Miriam wird mannstoll und verliert endlich den Verstand. Der alte Mendel bleibt allein in der traurigen Judengassezurück, der Vater in ihm wirft sich das Schicksal seines Jüngsten vor, der Europäer in ihm hat Sehnsucht nach der Heimat, der fromme Mendel hadert mit seinem Gott.
Aber Gott segnet den Empörer: der kleine Menuchim hat bei einem Brand die Sprache gefunden, ist später geheilt worden und bereist unter anderem Namen als berühmter Dirigent die ganze Welt. Am Pessachfest tritt er unbekannt wie der Prophet Elia ins Zimmer: – ein Märchenschluß, der nichts Märchenhaftes an sich hat, ein Wunder in einer Welt, in der alles mit sehr natürlichen Dingen zugeht. Dieses Wunder also ist keines. Aber

die ganze Welt selbst, gezeichnet mit allen Farben ihrer täglichen bunten und oft häßlichen Wirklichkeit, sie wird zum Wunder wie das Schicksal des unbedeutenden, noch in seiner Empörung frommen Lehrers Mendel Singer in die stille, reine, gelassene Welt der Legende eingeht: denn ein Dichter hat sie geschaut. Wir haben ihm für die Verklärung eines heilig-nüchternen, eines jüdischen Lebens dankbar zu sein.