Erzählung, gefunden im Simplicissimus, Heft 50, 1932
Wie vergeht der Tag ohne Proben, ohne Rollen lernen, abends ohne Vorstellung! „Ich habe Wege, gnädige Frau“, sagt man zu der Wirtin, „bitte, falls jemand anruft …“
„Schon gut, schon gut, ich werde alles notieren.“ Der Erste steht vor der Tür – Wirtinnen verlieren an Freundlichkeit, wenn man ohne Einkommen ist.
Bis zum Ersten sind es noch acht Tage. Bis dorthin kann ein Wunder geschehen. Es ist gut, wenn man an Wunder glauben kann. Die Wirtin scheint das nicht zu tun. Sie erwidert den Gruß überhaupt kaum und schlägt die Türe hinter sich zu. Man soll ihr nicht nachsagen, daß sie erst an dem Tag unhöflich geworden ist, an dem sie kein Geld bekommen hat.
Man hat Wege. Das heißt, man sitzt stundenlang in irgendwelchen Vorzimmern und fünf Minuten vor irgendwelchen Großmächten. Die jungen mit den Hornbrillen, das sind die Regisseure. Die älteren mit dem Monokel, das sind die Direktoren. „Ich wollte mich wieder in Erinnerung bringen“, flüstert man mit versagender Stimme …
Und dann steht man wieder im Vorzimmer und schaut angstvoll in den Spiegel. Ob man auch einen guten Eindruck gemacht hat?
Eines Tages hat man wieder zu tun. Bei der Bühne der Unvollendeten oder dem Theater der Jungen. Man probt Abend für Abend in kleinen, billigen Gasthäusern. Man probt die Nächte durch, schwindlig vor Hunger und Schlaf. Die wichtigsten Persönlichkeiten von Film, Theater und Presse haben bereits ihr Erscheinen zugesagt, aber übermorgen ist der Erste … RM 40,- sind soviel, soviel Geld, kein Mensch, selbst der nicht, der an Wunder glaubt, kann hoffen, daß man es übermorgen haben wird.
Die Wirtin grüßt seit zwei Tagen überhaupt nur durch Kopfnicken zurück. Erst übermorgen hat sie das Recht grob zu werden.
Das Theater der Jungen ist vorüber, die Bühne der Unvollendeten lebt nicht mehr, aber man ist nicht entdeckt worden. In irgendeiner Zeitung ist gestanden, daß man begabt ist, und in einer anderen, daß man Charme hat, und daß es schade ist. Du lieber Gott, und wie schade!

Man sucht Trost in alten Rollen. Man deklamiert zu Hause im dunklen Zimmer. Man sucht Trost bei Kollegen im Kaffeehaus. Man liest krampfhaft die Zeitungen durch, man sagt mechanisch: Die Zeiten, die furchtbaren Zeiten … Arbeitslosigkeit in Amerika, Arbeitslosigkeit in der ganzen Welt. Man hat sich ein schlechtes Geburtsdatum ausgesucht, seit wir leben, sind die Zeiten groß, aber unangenehm. Die Wirtin scheint keine Zeitungen zu lesen. Sie schiebt sich in ihrer ganzen ehrfurchtgebietenden Breite ins Zimmer undsagt: „Nu saren Sie einmal, Freilein, wie denken Sie sich das eijentlich?“
Wie wir uns das denken? Ja, machen wir Weltgeschichte? Was sind wir schon, wir kleinen, einzelnen Wesen, voll Ehrgeiz, Arbeitsfreude, Sehnsucht, Talent und Hunger! Die Wirtin sagt: „Nu, saren Sie, Freilein, wie komm ich denn dazu? Ich habe ja schließlich auch meine Verpflichtungen …“
Wir haben kein Recht, diese Frau zu hassen. Wir sind ihr charakterloserweise Geld schuldig. Die Wirtin stellt ein allerletztes Ultimatum und geht endlich.
Die Leute klopfen uns auf die Schulter und sagen, daß es so ist, sie können sogar genau begründen, warum. Sie wissen alles, was in der Zeitung steht, aber wie uns zumute ist, wissen sie nicht.
Wir reden dem Wunder gut zu. Wir haben kein Geld mehr für die Straßenbahn. Es wäre gut, sich Herrn Regisseur Sowieso oder Herrn Direktor XYZ. in Erinnerung zu bringen … wir haben kein Geld für den Schuster … wir sehen blaß und unvorteilhaft aus.
Wenn ein Wunder geschieht, dann muß es bald geschehen. Nächste Woche ist es vielleicht schon zu spät.
Hallo Jörg, tolle Geschichte. Ein bisschen wie heute…nur ohne Wirtin – zum Glück. Sehr schön, dass Du solche Geschichten mit Deinem Blog aus dem Vergessen hevorholst. Viele Grüsse aus Hamburg!
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