Erzählung, veröffentlicht im Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung, Morgenausgabe vom 20. Januar 1927
Mit neun Jahren hatte sie Georg von der Sturmfeder geliebt. Der war nun überwunden. Jetzt war sie nämlich schon zehn Jahre alt und kein Dorfkind mehr, sondern ein Schulmädchen der vierten Klasse der Volksschule im achten Bezirk in Wien. Nur kleine Kinder interessierten sich für Bücherhelden; große Mädchen mußten jemanden lieben, der wirklich existierte. Aber woher nehmen?
So dachte sie noch zu Weihnachten. Am 12. Januar aber bekam sie ihre erste Fleißkarte. Die Lehrerin überreichte sie ihr und sagte dazu: „Du kommst zwar aus dem Wald, aber du bist kein Hinterwäldler.“ Dieser Ausspruch berauschte sie um so mehr, als sie keine Ahnung hatte, was ein Hinterwäldler ist. Sie fühlte nur, daß es etwas Schmeichelhaftes war, daß es eine gute Meinung enthielt, die sie selbst erworben hatte. Das genügte.
C.F. Meyer hat nicht recht, wenn er sagt: „Süßres gibt es auf der Erde nicht, als ersten Ruhmes zartes Morgenlicht.“ Noch süßer ist es nämlich, seinen jungen Ruhm in weitesten Kreisen zu verbreiten. Sie rannte nach Haus wie gejagt. Atemlos und puterrot brach sie in das Wohnzimmer der verheirateten Schwester, deren Dauergast sie war, und keuchte abgebrochen: „Eine Fleißkarte … nur ich … erst acht Wochen in der Schule … Fräulein Weber hat gesagt …“
Die Erwachsenen unterbrachen nur ungern einen Streit über Richard Wagner als Dramatiker. Einer jener Leute, die Kinder immer scherzhaft zu nehmen belieben. fragte neckisch: „Ach, eine Fleißkarte hast du dir gekauft? Bravo! Ich habe sie vorige Woche in der Auslage bei Hochhaltringer in der Laudongasse gesehen. Sie hat zwölf Kreuzer gekostet. Na, zeig mal her.“
Einen Augenblick stand das Kind sprachlos vor Zorn und Demütigung. Dann ein Riß mitten durch, die geliebte, sauer verdiente Karte war entzwei. „Unartiges Kind!“ grollte der Schwager. Alle anderen schwiegen. Da erhob sich plötzlich eine Stimme. „Weißt du, was du bist? Ein ekelhafter Spaßverderber bist du! Nicht wert, mit einem Kind in einem Zimmer zu sein!“ Die Ansprache galt dem Witzbold. Der Sprecher war ein Freund des Schwagers, Onkel Otto genannt. Das war ein heiter blickender, behaglich-lebensfroher Mann, nahe den Vierzig; also in den Augen des Kindes nahe dem Grabe.
Sie hatte ihn eigentlich nie recht leiden mögen, denn er hatte hochrote Lippen und einen blonden Bart, der seidig glänzte. Der Held ihrer Träume aber mußte immer bartlos ein, kränklich und abgezehrt. Aber wie diese himmlischen Worte aus seinem Munde drangen, vergaß sie alles, was sie je gegen Onkel Otto einzuwenden gehabt hatte. Er war ein Held, ein Ritter, so merkwürdig und rührend wie Don Quichote, nur mit mehr Verstand und einem besseren Geschmack in bezug auf Frauen.
Fortan liebte sie Otto – den „Onkel“ hatte sie sofort fallen lassen – mit fanatischer Liebe. In den nächsten Wochen war ihr ganzes Leben nichts als ein Warten, bis er käme; obgleich sie genau wußte, daß er nur Donnerstag um acht Uhr zum Abendbrot zu kommen pflegte. Aber es hätte doch geschehen können, und da hieß es bereit sein. Ihren weißen Matrosenkragen wusch sie jeden Tag, ihre Hände jede Stunde. Sie setzte es durch, das Sonntagskleid (es war rot und grün kariert und hatte eine tegetthoffblaue Borte) auch wochentags zu tragen. Ihre Hefte wurden unwahrscheinlich schön, für den Fall, daß sich eine Gelegenheit böte, sie einmal zu zeigen. Einen Höhepunkt aber erreichte ihre Liebe in einer Mittwochnacht, in der sie, vielleicht zum erstenmal im Leben, nicht schlafen konnte. Beim Kerzenschein schrieb sie ein Akrostichon:
Oh, lieber Mensch, sei mir nur immer gut,
Treu und vertrauend geb‘ ich mich in deine Hut;
Tosend überstürzt sich meiner Liebe Flut,
Oger von dir fernzuhalten, hab‘ ich Mut.
Dann schlief sie tief ein. Dieses Gedicht legte sie Donnerstag abend auf die Treppe. Dort fand es Freitag morgen die Milchfrau und sagte: „Ich will der gnädigen Frau lieber nicht erzählen, wie du alles auf der Treppe herumstreust. Aber du darfst deine Schulsachen nicht so verschlampen, Kind.“
An diesem Tag war sie in der Schule so zerstreut, daß sie nicht nur keine Fleißkarte bekam, sondern sogar von Loko 1 (man saß nach Leistungen) auf Loko 16 abrutschte. Sie konnte nicht aufpassen. Sie mußte immerfort zeichnen, ihn zeichnen: mit schmalen Lippen, fanatischem Blick und immer weniger Bart.
Sie war entschlossen, ihn zu heiraten. Was waren dreißig Jahre Altersunterschied bei solcher Uebereinstimmung der Charaktere und Gefühle! Denn er liebte sie auch! Donnerstag vor acht Tagen hatte er gesagt und sie dabei so gewiß angesehen: „Darf ich mir an deinen Augen meine Zigarette anzünden?“
Er tat ihr ja leid, aber er mußte eben noch acht Jahre warten. Dann war sie achtzehn. Dafür sollte er belohnt werden, denn sie würde so groß, schön, klug und tüchtig werden, daß alle staunen sollten. Sie wollte sogar lernen, seine Lieblingspeise, Grammelpogatschen, zuzubereiten, obgleich es ihr lieber gewesen wäre, wenn er Spargel vorgezogen hätte.
Er war Journalist. Sie begann die Zeitung zu lesen, obgleich es ihr sehr sauer wurde. Da standen ganz langweilige Sachen drin, und sogar abscheuliche. Nur die Ankündigungen waren interessant.
Am 13. Februar war Abendgesellschaft zur Erinnerung an Richard Wagners Todestag. Sie durfte das weiße Kleid anziehen und bei Tisch servieren helfen. Otto war auch da, das heißt, die andern waren auch da. Neben ihm saß Fräulein Elise. Die war furchtbar komisch. Immer lachte sie, wenn nichts zum Lachen war, und man machte ein trauriges Gesicht, wenn man erzählte, daß jemand gestorben sei, auch wenn sie der Tote gar nichts anging.
Am wenigsten konnte das Kind leiden, wenn Fräulein Elise sich mit ihr beschäftigte. Denn sie hatte die Gewohnheit, sie mit einem Finger leicht, zu leicht, unters Kinn zu greifen und zu sagen: „Du bist ein kleiner Liebling.“ Dann lief das Kind jedesmal aus dem Zimmer und kratzte sich so lange am Kinn, bis beinahe Blut kam.
Fräulein Elise war schon alt. Mindestens vierundzwanzig Jahre. Trotzdem puderte sie sich die Nase und hatte an ihrem Hut rückwärts zwei Hängebänder. Sie sagte, die nenne man in Prais „Suivez-moi“, und dazu lachte sie so, daß man ihren schwarzen Eckzahn sah.
Dem Kind tat Otto leid, daß er neben Fräulein Elise sitzen mußte. Bei ihm hätte Aschenbrödel sitzen müssen, Elsa von Brabant oder Charlotte Corbay. Am liebsten sie selbst. Aber Elise!
Als sie die Sauce zum Kalbsbraten herumreichte, wurde sie beinahe ohnmächtig. Sie konnte nämlich ganz deutlich sehen, daß Otto unter dem Tisch Elisens Hand gefaßt hatte und streichelte. Da tippte die Saucière, und der Bratensaft floß hinter Ottos untadeligen Kragen. „Wer serviert da?“ Er drehte sich heftig um. „Ich“, sagte das Kind, todesmutig. „Na, macht nix. du bist eben ein kleines Schaf.“ Er lächelte nachsichtig. Das Kind sah ihn mit einem Blick an, der ihn voller Hoheit und Vollkommenheit entkleidete. „Verzeih, Onkel Otto“, sagte sie und sie betonte den „Onkel“ so, daß alle Leute erstaunt aufblickten. Ein Schicksal war durchs Zimmer geschritten.