Hans Fallada – Gegen jeden Sinn und Verstand

Eine merkwürdige Begebenheit, abgedruckt in der Zeitschrift „UHU“, Mai 1932

Im Jahre 1923 machte ich ein paar Wochen auf einem großen Rittergute in der Neumark den Feldschutz. Im Dorfe wohnten außer unseren Landarbeitern viele industrielle Arbeiter, und da die Inflation auf der Höhe war und die Leute sich für ihre paar Milliarden Mark kaum die nötigsten Lebensmittel kaufen konnten, war der Felddiebstahl stark im Gange. Dabei fiel das Gestohlene nicht einmal so ins Gewicht wie das Verwüstete, das Zertrampelte, die heruntergebrochenen Obstbaumäste, die abgelassenen Karpfenteiche.

Der Besitzer mußte sich wehren, das war keine Frage, aber es war doch eine unsympathische Tätigkeit, trotzdem den Erwischten eigentlich nichts geschah: wir nahmen ihnen das Gestohlene ab und zeigten sie an. Dann bekamen sie eine Geldstrafe, die bei ihrer Bezahlung kaum ein paar Goldpfennige ausmachte. Darum waren wir Männer vom Feldschutz aber doch im Dorf verhaßt wie die Pest, es war eine grauenhafte Atmosphäre aus Erbitterung, Nervosität, Furcht, Abenteuerlichkeit und Pistolen. Schließlich wurde denn auch einer von uns mit einer Kartoffelhacke totgeschlagen, aber das war erst nach meiner Geschichte.

In dieser Stimmung gingen der kleine Dreyer und ich eines Nachts um zwölf los, wir gingen immer zu zweien. Mit dem kleinen Dreyer, einem untersetzten dicken Baltikumer, ging ich nie sehr gern, er hatte mit dem Herzen zu tun, regte sich ewig auf und war überhaupt ein Pulverfaß.

Wir gingen zuerst ganz an die Grenze des Guts auf einen Schlag, wo in der letzten Nacht von dem in Garben stehenden Weizen die Aehren abgeschnitten worden waren. Es war eine stickedunkle Nacht, und Dreyer bekam im Weizen auch prompt seinen Anfall, sah und hörte Diebe, wo ich Rehwild sah und Wind im angrenzenden Kiefernwald hörte, jagte herum, knallte, brüllte und war dann erledigt.

Ich lotste ihn sachte in den Wald, fand an einer Lichtug eine nette Jagdkanzel, und da saßen wir denn, rauchten, klöhnten und ließen Wachtdienst Wachdienst sein. Unterdes ging die Sonne auf und ich meinte, wir könnten nun wohl wieder nach Haus wandern und nachschauen, ob unsere Betten noch da seien. Wir gingen los, Dreyer nach der Aufregung nur sehr stöckerig, und als wir auf eine kleine Lichtung kamen, keine drei Minuten von dem Landweg, der schnurgerade zum Gut hinführte, setzte er sich hin, erklärte, er könne nicht mehr weiter, sah sehr blau aus und hatte schreckliche Beklemmungen.

Eine Weile wartete ich, aber es wurde nicht besser, es ging ihm wirklich sehr schlecht. So sagte ich, ich würde rasch die halbe Stunde zum Gut laufen und ihn mit der Spinne holen. Eine Spinne ist ein Einspännerwagen mit hohen Rädern. Dreyer konnte nicht recht antworten, vielleicht hatte er auch nicht mehr recht verstanden, er hatte Todesangst, ich bekam sie auch und lief los.

Ich habe schon gesagt: drei Minuten Waldschneise, die Schneise stößt im rechten Winkel auf den Landweg, der noch etwa 500 Meter durch den Wald führt, dann noch reichlich zwei Kilometer durch Felder, immer schnurgerade auf den Hof zu.

Ich laufe, ich laufe. Mir war trotz des strahlenden Sommermorgens trübe und trist zumute, ich beschloß, ein Ende zu machen hier, selbst ohne Kündigung. Ich erinnere mich genau, wie ich gelaufen bin, die Bäume flitzten nur so an mir vorbei. Dabei sah ich mich ständig um, ob Leute kämen oder ein Gefährt, aber es war noch zu früh, kaum fünf. Ich laufe.

Ich komme auf den Gutshof, ich renne nach dem Stall, um das Pferd zu holen, da kommt schräg von rechts, aus dem Beamtenhaus – Dreyer auf mich zu!

Ich stehe und starre. „Wo sind Sie so lange gewesen?“ fragt er böse.

„Aber -! Wie kommen Sie …“

„Schön unkameradschaftlich, mich so lange liegen zu lassen!“ Und Dreyer macht kehrt und geht wieder ins Haus.

Aber wieso -?

Nein, bitte, ich bin pausenlos durchgelaufen. Dreyer hat auf keinem Weg an mir vorbeikönnen, und Dreyer war vor mir auf dem Hof!

Aber -!

Ja, ich verstehe es eben auch nicht. Es hilft nichts, es gibt keinerlei Erklärung. Es wurmt mich, es bekümmert mich, ich kann mir nicht helfen, es ist unsinnig, und doch habe ich es erlebt!

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