John Henry Mackay – Die grausame Lust

Erzählung aus der Vossischen Zeitung vom 18. August 1929

Sie sahen sich jetzt selten, seit der Krieg und alles, was sie in ihm gemeinsam durchgemacht, hinter ihnen lag, aber wenn sie sich zufällig trafen, wie heute, setzten sie sich zusammen und erzählten sich, wie es ihnen ging und wie sie sich durchs Leben schlugen. Nur vom Kriege sprachen sie nie mehr, wie die meisten, die ihn überstanden und mehr oder minder hell aus ihm hervorgegangen waren.

So auch heute. Nachdem sie sich gesagt, was sie voneinander wissen wollten, kamen sie – wie damals so oft in dem Schmutz, der Oede und dem Grauen der Unterstände – auch jetzt von den persönlichen auf allgemeine Fragen zu sprechen, diese drei in Aussehen, Beruf und Neigung so verschiedenen, noch jungen Leute.

Auf die: ob jede verbrecherische Handlung der Menschen ihren Urgrund in Bedrängnis, Not oder Verzweiflung habe und es daher für jede solche Tat eine Erklärung und (für ihren Täter) eine Entschuldigung gäbe; oder ob es Menschen gäbe, die das Böse täten nur aus der Lust am Bösen – Kanaillen in Reinkultur -, Taten also, für die jede Erklärung und Entschuldigung fehlt, da sie begangen werden aus der abgrundtiefen Gemeinheit der menschlichen Natur heraus.

Zwei von den Dreien neigten mehr zu der ersteren Annahme, ohne jedoch ganz überzeugt zu sein.

Wie um ihrem Schwanken ein Ende zu machen, begann der Dritte – der mit der tiefen Narbe über dem linken Auge – der zugleich, dessen trüber Ernst nur selten noch durch ein Lächeln erhellt wurde. Er sprach langsam, bedächtig und überlegt.

„Ich will euch einen Fall erzählen, den ich selbst erlebt. Ich war damals noch ein Junge von etwa dreizehn Jahren. Wir hatten Völkerball gespielt, dort oben auf der großen Wiese. Es ging gegen Abend, und ich war auf dem Nachhausewege, als ich an einem der großen Neubauten vorbeikam und dort, die Hände in den Hosentaschen, einen Mann stehen sah, der aufmerksam an den Gerüsten emporblickte, als sähe er etwas Außergewöhnliches. Ich blieb natürlich ebenfalls stehen, um zu sehen, was dort oben wohl los sein konnte.

Wir waren beide ganz allein. Es war an der Grenze der Stadt und die Gegend verlassen, wie stets am Abend.

Ich sah, wie er sich zu mir wandte und hörte ihn fragen: „Biste schwindelfrei?“

Ich antwortete erst nicht. Einmal, weil ich selbst nicht recht wußte, ob ich schwindelfrei war, denn wenn wir Jungens das Wort brauchten, geschah es immer mit Lachen und Bezug auf seinen Doppelsinn. Dann aber auch, weil ich nicht verstand, was die Frage bedeuten sollte.

Ganz schwindelfrei war ich wohl nicht, denn wenn ich beim Turnen hochoben auf der Kletterstange saß, hatte ich dasselbe merkwürdige Gefühl, wie wenn ich zu Hause von unserem kleinen Balkon im vierten Stockwerk in den Hof hinunter sah.

Ich sagte denn nur, daß ich es nicht wisse.

Der Mann zog die eine Hand aus der Tasche, lächelte mich von der Seite her an und sagte, indem er mir ein Geldstück hinhielt: „Wenn de da heraufkletterst, bekommste ’ne Mark …“

Meiner erster Gedanke war fortzulaufen. Die Geschichte kam mir nicht geheuer vor. Was wollte der Mensch von mir? – Und weshalb sollte ich dort hinauf, wo nichts zu holen war?

Aber dann: eine Mark!

Eine Mark war für einen Jungen, wie mich, ein Vermögen.

Für eine Mark konnte man auf dem Rummel zehnmal schaukeln (dabei wurde ich nie schwindlig); für eine Mark gab es Eiswaffeln in unausdenkbaren Mengen; eine Mark – für eine Mark bekam ich die Luftpistole, nach der ich mich schon so lange glühend sehnte …

Und doch! – Da war etwas dahinter. so fragte ich denn zunächst einmal: „Was soll ich denn da oben?“

„Gar nichts. Will bloß mal sehen, ob du ’n forscher Kerl bist.“

Nun, ihr wißt ja, wenn man bei einem Jungen in dem Alter an sein Ehrgefühl appelliert, hat man schon halb gewonnen.

Dann aber, um vielleicht doch noch einer eigenen Entscheidung zu entgehen:

„Ich kann ja gar nicht hinauf …“ Denn die Arbeiter hatten, wie es ihre Vorschrift war, die untersten Leitern eingezogen, um ein Besteigen des Gerüstes von der Straße her während ihrer Abwesenheit zu verhindern oder doch zu erschweren.

„Ich helfe dir schon hinauf,“ war die Antwort.

„Wie hoch muß ich denn?“ meinte ich, immer noch zaudernd, und sah dabei auf das Markstück in der Hand vor mir.

„Na, nur bis oben hinauf. – Bist doch ’n strammer Junge und wirst dich vor dem bißchen Klettern nicht fürchten! Ich helfe dir schon … So …“

Da aber erwachte mein ganzer Stolz.

„Ooh,“ sagte ich, „das kann ich schon allein. Lassen Se man …“ und begann den Pfosten in die Höhe zu klimmen, als sei er die Stange in der Turnhalle. Ich erreichte leicht die ersten Leitern und begann den Aufstieg.

Bis zum ersten Stock ging es schnell und gut. Auch den zweiten erreichte ich ohne besondere Anstrengung. Beim Aufstieg zum dritten fühlte ich zwar noch nicht die Kraft in meinen Armen nachlassen, aber ich hatte plötzlich das seltsame Gefühl im Magen, das ich kannte. Aber ich biß die Zähne zusammen und kam glücklich oben an, im dritten Stockwerk, wo die Gerüste aufhörten und es nicht mehr weiterging.

Bei dem ganzen Aufstieg hatte ich nur immer in die Höhe geblickt. Jetzt öffnete ich die Augen und warf einen Blick hinunter. Da aber setzte das scheußliche Gefühl, als müsse ich fallen, plötzlich wieder und so heftig ein, daß ich die Augen sofort wieder schloß und mich mit beiden Händen fester an die Leiter klammerte, die ich glücklicherweise noch nicht losgelassen hatte, um auf die schwankenden Bretter zu treten.

Ich wußte instinktiv, daß, wenn ich jetzt nochmals hinuntersah, meine Hände und die Kraft, mich festzuhalten, nachgeben und ich hinunterstürzen würde.

So hielt ich denn krampfhaft beide Augen geschlossen und begann behutsam den Abstieg, indem ich mich von Sprosse zu Sprosse mit den Füßen hinuntertastete.

Ich machte mir selbst Mut, indem ich mir sagte, daß ich doch der beste Turner in der Klasse sei.

Ich wußte nicht, wie lange ich schon so hinuntergestiegen war und wieviele Sprossen schon hinter mir lagen, aber eine Ewigkeit schien mir vergangen, als endlich meine Füße keinen Halt mehr fanden und ich es wagte, die Augen zu öffnen. Ich war unten, dort, wo die Leitern aufhörten. In der nächsten Sekunde rutsche ich den Pfosten hinunter und stand auf der festen Erde. Da erst wagte ich die Augen richtig aufzumachen. Ich stand da und zitterte am ganzen Körper. Mein kleines Herz schlug wie wild.

Wieder nach einer Weile erst sah ich auf, um meine Mark in Empfang zu nehmen.

Der Mann war fort.

Ich wollte es erst nicht glauben. Dann brauchte ich wieder eine ganze Minute, um recht zu begreifen, daß ich betrogen war. Erst wollte ich losheulen. Aber statt dessen fing ich plötzlich an zu laufen, um die Ecke herum, an der er verschwunden sein mußte, als könne ich ihn noch einholen, der doch schon längst über alle Berge war … Ich lief und lief, bis ich endlich zu Hause ankam, wo ich mit Scheltworten über mein langes Ausbleiben empfangen wurde. – Ich erzählte natürlich nichts, warum ich so spät kam …“

Der Erzählende schwieg und tat einen Schluck aus seinem Glase. Keiner von den beiden anderen sprach ein Wort. Der eine, der kleinere, mit dem runden, gutmütigen Gesicht, sah vor sich hin; der andere, mit den scharfen und verbitterten Zügen auf ein Bild an der Wand, eine Oeldruck, als könne er nicht begreifen, warum der so scheußlich war.

Als der Erzähler wieder begann – sprach er noch leiser und langsamer, als vorhin, wie wenn jedes seiner Worte seit langem überlegt worden sei und so seine Form gewonnen habe.

„Damals begriff ich noch nichts – nicht, in welcher Gefahr ich geschwebt, noch die eigentliche Absicht dieses fremden Menschen. Ich sah immer nur die verlorene Mark und wie ich um sie gebracht war. Aber ich vergaß die kleine Szene nie, und seltsam, je mehr Zeit darüber hinging, um so deutlicher wurde mir das Gesicht, das an jenem Abend vor mir aufgetaucht war und ich sah es deutlich vor mir – den versteckten Blick, das schiefe Lächeln um den verkniffenen Mund – sah es so, wie ich es noch heute sehe und immer sehen werde, so daß ich es sofort wiedererkennen würde, begegnete er mir. Denn allmählich, älter geworden und erfahrener gegenüber der Niedertracht der Menschen, begriff ich, was dieser Mensch beabsichtigt hatte.

O, er riskierte nichts, nicht das geringste. Wäre jemand vorbeigekommen, während ich dort oben war, hätte er ruhig weitergehen und verschwinden können. Aber, wie gesagt, es kam kaum eine Mensch um diese Zeit in die verlassene Gegend um die Neubauten. Wäre ich abgestürzt, wie er es heimlich wollte und wohl erhoffte und hätte mit zerschmetterten Gliedern oder tot vor ihm gelegen, hätte er sich eine Weile ergötzt, eher er weitergegangen. Als er mich aber heil herunterkommen sah, machte er sich beizeiten aus dem Staube …“

„In der Tat, er hatte nicht das geringste riskiert – nicht einmal seine Mark! …“

Wieder schwieg der Erzählende, und wieder entgegnete keiner seiner seiner Zuhörer ein Wort. Nur daß der Hagere, den sie Gustav nannten, sein Gals mit einem Zuge leer trank und es so hart wieder hinsetzte, daß es fast zersprungen wäre, indessen der Kleine, hochrot, sich tiefer über das seine beugte.

Sie hörten nur noch, wie ihr Freund noch, aber jetzt mehr für sich und vor sich hin, sagte:

„Wenn ich den Menschen aber wiedersehe – und ich sehe ihn wieder – dann Gnade ihm Gott …“

Sie hatten offenbar keine Lust mehr, zu sprechen, denn auch auf seine Frage:

„Glaubt ihr mir jetzt!“ – erhielt er keine Antwort.

Man ging denn auch bald auseinander, mit dem gewohnten Händedruck und dem alten: „Auf das nächste Mal“, von dem keiner wußte, wann und wo es sein und ob es überhaupt noch ein solches nächste Mal für sie geben würde.

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