Aus der Artikelserie „Der Rhythmus von Berlin“
Veröffentlicht in der ersten Beilage der Morgenausgabe der „Vossischen Zeitung“ am 13. Februar 1923.
Schöneberg – die Vorstellung dieses Groß-Berliner Ortsteils zerflattert, will man sie packen, wie Wolken im scharfen Vorfrühlingswind …
Schöneberg – das können immer noch ein paar niedrige Bauernhäuser in der Hauptstraße sein – mit riesigen Gehöften und imposanten Misthaufen, auf denen stolze Hähne krähen, die flügelschlagend, farbensprühend, um sich blicken. Und ebenso kann Schöneberg noch immer jener Willenskomplex der ehemaligen Millionenbauern nahe dem einstigen Dorfanger sein. Gut erhalten, bekunden diese bäuerlichen Schlösser selbst heute noch ihre Ueberlegenheit, während die paar anderen Häuser „herrschaftlicher Art“ aus jener Zeit das Ansehen schon eingebüßt haben. Ihre Vorgärten mit den Efeudecken erinnern modrige Erbbegräbnisse, ihre dichtverhängen Fenster mutenso abweisend an, als wollten die da drinnen die Welt hier draußen fühlen lassen, daß man sich um den neuen Kurs nicht kümmere.
Und Schöneberg kann auch jetzt noch das kleine Dorfkirchlein sein, auf dem sich die Wetterfahne mit der ausgeschnittenen Jahreszahl 1764 dreht. Dieses Kirchlein, in dem einst Schloßprediger Frege und nach ihm Superintendent Vorberg die ergreifenden Christandachten hielten, was sich die jungen Brautpaare aus der neuerschlossenen Potsdamer Vorstadt mit Vorliebe zur Trauung erwählten, weil es so romantisch war, „das kleine Dorfkirchlein!“ Und dieses Schöneberg ist immer noch das niedrige Häuschen mit den verwaschenen Reliefs und dem verwitterten Hirschgeweih, das „Jagdschlößchen“ im Vorgarten der Schloßbrauerei, von dem aus einst die Hofgesellschaften nach dem nahen Grunewald sprengten …
Ja – all das kann wohl auch heute noch in vieler Köpfe die Vorstellung von Schöneberg sein, aber dieses Schönebergs Melodie klingt so wehmütig-verloren, wie das alte sentimentale Lied der Drehorgel, deren Töne jetzt, im Abenddämmern, irgendwo aus einer Nebenstraße herübergeweht, von den Autohupen und dem Rumoren der Elektrischen aber unterdrückt werden.
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Doch – neben dem bescheidenen Dorfkirchlein steht der Riesenturm des neuen Gästehauses, dieser Turm, der nicht ein Architekturwerk, sondern eine Drechslerarbeit aus Stein ist. Er blickt auf das Gewesene nach dem Gewordenen.
Und dieses neuen Schönebergs Wahrzeichen ist der gewaltige Rathausturm, dessen Schönheit erst ganz offenbar wurde in jenen Tagen, als dort oben die mächtigen Siegesfahnen flatterten. Daneben der Stadtpark – diese Meisterschöpfung eines wirklichen Gartenkünstlers, der hier, unter Anpassung an das hügelige Gelände, ein charakteristisches Abbild des ehemaligen weiten Schöneberger Wiesenlandes mit seiner Flora geschaffen hat. Am stärksten wird das an einem Sommernachmittag empfunden, wenn aus dem Grün der Matten die gelben Tupfen der Butterblumen leuchten, die Wasserrinnsale vom Blau des Vergißmeinnichts gesäumt werden, eine Gruppe steifer Schwertlilien erblüht ist, dann der westliche Himmel im Sonnenschein aufflammt und oben, im Weidengeäst, die Goldammer noch singt.
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Aber Schöneberg kann auch der Bayerische Platz sein. Was ist bei der Entstehung von seiner besonderen Gestaltung für ein Wesen gemacht worden – und wie komisch mutet heute das Gemäuer in seiner Mitte mit den Pappelbäumen an! Auf diesem Platz wird Berlins bleiche W-W-Jugend im beizenden Dampf der dort im Umkreis haltenden oder vorüberflitzenden Autos von ausgesucht schönen, durchaus hochherrschaftlich anmutenden Kindermädchen, koketten Bonnen in spitzenbesetzten Paradewägelchen umhergefahren und dann – halb erstickt und ganz betäubt – heimgekarrt.
Und auf diesem Platz sitzt in der letzten Hochsommerzeit das aus den Badeorten schon heimgekehrte, schwitzende Berlinertum in Dirndlkostümen oder Bastseide-Anzügen und gibt sich derIllusion einer billigen Nachkur hin, indem es auf den Springbrunnen starrt. Lauffähige Sprößlinge lassen aus Kurszetteln gemachte Papierschiffchen im Fontänebecken schwimmen, kleine Mädchen mit nackten Beinen und so kurzen Kleidern, daß sie wie Schurze anmuten, balancieren an der Hand kindlich tuender Onkels auf dem Eisengeländer, die mannbar werdende Jugend aber flirtet mit dem Gehabe Erwachsener.
Der „Achter“ glitscht vorüber, das einzig standesgemäße Massengefährt des Bayerischen Viertels – auch er gehört zu Schöneberg – dieser Auto-Omnibus 8, der zu bestimmten Zeiten sein typisches Publikum hat: in den Morgenstunden wohlriechende, elegante Konfektionsdamen, die in die Gegend des Hausvogteiplatzes, Rechtsanwälte mit ihren Aktenmappen, und Kaufherren, die nach der City wollen. Man kennt sich vom Ansehen, bildet eine geschlossene Gesellschaft, hat schon immer seinen bestimmten Platz. Und dann, etwas später, als Fahrgäste fast nur Damenpublikum – edles Pelzwerk, kostbare Ringe an gepflegten Händen. Man fährt „in die Stadt“, um Besorgungen in den Kaufhäusern oder den Luxusgeschäften der Leipziger Straße zu machen, zählt bekümmert die Zehntausender in den roten Lacktäschchen, rechnet nachdenklich, während man sich in den Scheiben spiegelt …
In rasender Eile geht die Fahrt durch die Hauptstraße dieses Stadtteils, deren Asphaltpflaster wie poliert glänzt von den Gummirädern der Autos. Von dieser steifen Speyerer Straße, die einmal einen Reitweg hatte, der niemals Reitweg wurde, und der nun zur Karikatur einer Promenade geworden ist, führen gewundene Straßen, wie mittelalterliche Gassen, in ein mittelalterlich anmutendes Stadtgebilde, dessen Häuser nur viel zu hoch sind um echt zu wirken. Da stehen sie nun, „mit allem Komfort der Neuzeit“, diese maskierten Mietskasernen, für deren Wohnungen man damals, als das Viertel erwuchs, keine Mieter finden konnte, die Bauunternehmer verzweifelt auf den Straßen lauerten, um jeden Mietlustigen abzufangen, ihm Umzugsvergütung, freies Wohnen auf ein Vierteljahr und Berücksichtigung aller Sonderwünsche versprachen. Jetzt sind diese Häuser mit den hohen, schrägen Ziegeldächern, den Giebeln und Türmen, den damals so neuartig anmutenden Fassadenfarben längst etwas Gewohntes geworden, die Farben verblaßt, die Ziegeldächer schwarz, Zentralheizung und Warmwasserversorgung etwas Selbstverständliches, die Dachgärten etwas Ueberflüssiges, und die Waschküche ein Streitobjekt für die Mieter wie in jedem anderen Hause. Die Wohnungen aber sind vollgestopft bis auf das letzte Gartenhausgelaß.
Schilder von Spezialärzten und Pensionen überall an den Eingängen und Gittern. Und unter diesen Pensionen alle Abstufungen, vom einfachen Fremdenheim bis zur Kulturpension; denn zu dem begüterten, soliden Bürgertum in den Vorderhäusern und den interessanten, alleinstehenden Damenin den Gartenwohnungen mit Bad kommen die Fremden, die ihres Studiums oder ihrer Ausbildung wegen ausgesucht haben, in den Pensionen des Bayerischen Viertels das „Home-Gefühl“ erkaufen wollen. Amerikanische Musikstudentinnen, englische, kunstbegeisterte Damen, aufgeregte Russen mit langen, und exaltierte Russinnen mit kurzen Haaren, vor allem aber schweigsame, beobachtende Japaner, Japaner. Japaner, deren Eulen-Brillen-Gesichter sogar aus den Schaukästen der Photographen lächeln. In den Restaurants und Cafés der Gegend bilden sich zuweilen ganze Nationaltische, wie schon vor dem Kriege, nur daß sich die Entente damals vermischte, während man sich jetzt gegenseitig etwas reservierter verhält.
Der Achter schwenkt in die Maxstraße ein, diesen ehemaligen Feldweg, auf dem jahrzehntelang einsam nur der rote Ziegelbau des Amalienhauses stand. Wo einst die Haubenlerchen morgens tänzelten, tänzelt abends jetzt die Unmoral, wie diese Friedrichstraße des Bayerischen Viertels ja ersti hre wahre Physiognomie erhält, wenn die Bars und Dielen, Likörstuben und Weinlokale dort und in der Umgebung zum Leben erwachen.
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Aber Schöneberg ist schließlich auch für viele jene seltsame Kontrastgegend am Tempelhofer Weg, wohin durch ärmlich und traurig anmutende Straßen mit Trödlerläden und Lumpenkellern die Leichenwagen fahren. An den Bahngleisen dort liegen unendlich große Friedhöfe von melancholischem Reiz. Die Schwarzdrossel, um diese frühe Jahreszeit noch verlassen von den Grabsteinen spricht fromme Denkungsart hoffnungsvolle Sprache zu dem Einsamen.
Und in dieser Gegend liegen auch die ungeheuren Gasanstalten mit ihren an oberschlesische Bergwerke erinnernden Anlagen. Bahnkörper, Tunnels, Mauern – ein wirres Kunterbunt. Auf Zäunen Inschriften: „Der Hundescherer und Rohrstuhlflechter wohnt um die Ecke“ charakterisieren die Anwohnerschaft – Schöneberger, die auch leben wollen.