Vorwort zu einer Mappe Radierungen vom Emil Bizer, Verlag Ferdinand Möller, 1924, abgedruckt in der Vossischen Zeitung vom 24. August 1924
Im südlichen Schwarzwald liegt ein kleiner Kurort, der in den letzten Jahren zur Berühmtheit gelangt ist, Badenweiler. Er verhält sich zu Baden-Baden wie die Kammerspiele zum großen Theater. Oder wie eine Freilichtbühne zu einem Zirkus. Oder wie ein Privathotel zu einer Karawanserei. Er trägt ein adelig stilles Gepräge, und Snobs, für welche die Lichtenthaler Allee gebaut ist, fallen im alten englischen Park, dem Kurgarten Badenweilers, kopfüber aus dem Rahmen. Von den Waldwegen sieht man in die Schweiz und ins Elsaß hinein. Es ist, seitdem das Elsaß wiederum Frankreich gehört, eine Dreiländerecke. Hier wachsen Pappel, Edelkastanie und Rebe. Hier habe ich mein Zelt aufgeschlagen. Als ich noch den Platz suchte, wo ich es aufschlagen wollte, traf ich Emil Bizer, und dem war es sogleich so klar wie der Herbsttag, der uns zusammenführte, daß ich hier mich niederlassen müsse. Er nannte mir keine Gründe, sondern ging mit mir spazieren. Wir sprachen nicht viel, aber vom ersten Tag an gingen wir nebeneinander her wie Freunde, die die Wege und Waldwinkel ihrer Kindheit aufsuchen. Vom Hochblauen hinab zum Rhein, von Freiburg bis nach Basel, Blatt um Blatt des Bilderbuches schlug Bizer mir auf, mit leichtem Finger, schon im Weiterandern, mit einem guten, flüchtigen Ernst in den Augen, der zu fragen schien: „Erinnerst du dich jetzt?“ Und wenn etwa von Paris die Rede war, sp sprachen wir eben davon, wie zwei rheinische Alemannen, die mit Freude und Gewinn in Paris gewesen sind. Einmal war eine Dame mit uns; die fiel beim Wort „Paris“ in Ekstase; gleich rühmten Bizer und ich das wuchtige, knotige Basel. So fand ich nicht nur einen neuen, schönen Winkel meiner schönen alten Heimat, sondern zu dieser Landschaft auch gleich einen Kameraden. Ich hatte noch keine Arbeit von ihm gesehen, da wußte ich längst: Jeder Zoll ein Künstler! Es dauerte geraume Zeit, bis er mir seine Blätter und Bilder zeigte. Ich war erstaunt, denn ich hätte nicht gedacht, daß er, der als Mensch so geschlossen war, unser aller Weg vom Impressionismus zu uns selbst so intensiv erlebt hätte. Sein Alemannentum war durch manches Fegefeuer gegangen.
Ich habe Emil Bizer gebeten, daß er mich zu seiner Mappe ein Vorwort schreiben lasse. Denn seine Angelegenheit, die alemannische Landschaft, ist auch die meine. Wir sind nebeneinander aufgewachsen, Bizer rechts, ich links des Rheins, im großen geründeten Garten zwischen Vogesen und Schwarzwald, der so eins und unteilbar ist, daß politische Grenzen wie eine Fiktion erscheinen.
Es ist die Landschaft, die im „Simplicissimus“ Grimmelshausen, auf einem Vorberg des Schwarzwaldes sitzend, als die Gegend schildert, „in welcher die Stadt Straßburg mit ihrem hohen Münsterdom gleichsam wie das Herz, mitten in einem Leibe beschlossen, hervorpranget“; die schon Philesius am Ende des 15. Jahrhunderts in seinem Vogesengedicht überaus anmutig zu besingen wußte:
„Hier wächst lieblicher Wein auf sonnengesegneten Hügeln.“
Wird nicht jeder Badener, dem ich das Gedicht vorsage, lächeln wie einer, dem man von seiner vertrauten Liebe spricht? Nicht minder erkennen wir Elsässer in Hebels Gedichten und Geschichten uns selbst, in Thomas Bildern unsere Täler und Hänge wieder. Daß sie dennoch verschieden sind, erhöht den Reiz der Familienähnlichkeit. Links des Rheins sind die Menschen lebhafter, glatter, aufgeweckter in jeder Beziehung, die Berge spröder und abseitiger. Auf dem rechten Ufer verhält es sich gerade umgekehrt, da sind die Berge ein einziger weitgeöffneter Park, alte Rast- und Erholungsstätte, wo schon alle Sprachen der Erde geklungen haben, die Bewohner aber eckiger, unzulänglicher, vielfach noch ganz in sich versunken. Der Fremde sieht den Unterschied greifbarer bei den Menschen, wir Alemannen empfinden ihn stärker in der Landschaft. Um die Gegensätze in einer so kunstvoll geschlossenen Landschaft zu erkennen, muß man schon darin leben; die Unterschiede des Temperaments stoßen dem Fremden eher auf. Im übrigen sehen die meisten, wie sie sehen wollen, nämlich politisch. Weshalb über keinen Erdenfleck soviel albernes Zeug geschrieben und geredet worden ist wie über diesen.
Es ist das alemannische Rheinland.
Eine einzige Landschaft gibt es, mit dieser vergleichbar in ihrer Zartheit und Klarheit, stiller Fülle und Rundung: Toskana. Aber, als Bild betrachtet, verläuft Toskana und ist bald verwildert. Zwei Stunden hinter Florenz erkennt man nicht mehr sein Gesicht. Tatsächlich hält nur die engste florentinische Landschaft im Blick zusammen. Der Quell, worin Narziß sich spiegelt, ist dort kostbarer gefaßt; hier scheint er fast ein Meer und Narziß selbst um vieles weniger eitel. Ich glaube nicht parteiisch zu sein. Aber wahrscheinlich bin ich es doch. Deshalb sage ich nur: mehr als die Hälfte meines Lebens habe ich in diesen beiden Landschaften verbracht, ich kenne alle ihre Jahreszeiten, und immer waren sie, wo ih sie gerade verlebte, ein Echo der andern, geschwisterlichen Landschaft, unlösbar miteinander verbunden n meinem Geist – aber hier bin ich geboren.
Hier bin ich geboren. Hier bin ich zu Hause. Heimat, das ist für uns eine so köstliche, so lebendige Tatsachen, wie die politischen Menschen zentralisierten Staaten sie nie und nimmer begreifen. Es geschieht mir nicht selten, daß mir hüben oder drüben des Rheins, hier, in meiner Heimat, die Festredner und andre Staatsmänner die „engere“ nennen – als ob es eine „weitere“ Heimat gäbe, es sei denn alle Welt, wo sie schön ist! – das Aufenthaltsrecht bestritten wird, nicht gerade polizeilich, aber moralisch. Ich weiß dann nie, soll ich weinen oder soll ich lachen über die Leichtfertigkeit eines zufällig in diese Gegend gewehten oder als Ladenhüter hier zurückgelassenen Zeitgenossen, der sich beschwert, daß ich denselben Boden mit ihm trete: den Boden, mit dem alle meine Vorfahren ins Grab gegangen sind, und worin sie treu liegen, dort, wohin sie gehören, in der großen alemannischen Familiengruft. Und auf dem ich nicht als Gewerbetreibender oder Verwaltungsbeamter, bereit, einen andern Laden aufzutun, der besser rentiert, oder einem neuen Herrn zu dienen, wenn der alte bankerott ist, atme und schreite, sondern als lebendiges Gewissen und lebendes Lied dieser Landschaft. In meinem Zorn habe ich sie Ueberkuckucke getauft, weil diese unansehnlichen und humorlosen Gesellen sich nicht damit begnügen, ihre Eier in fremde Nester zu legen, sondern ihren unfreiwilligen Gastgebern obendrein noch ihr gutes Recht auf das Nest bestreiten. Damit ist aber meinem Rachebedürfnis auch schon Genüge getan. Fahret dahin, ihr Nachtwächter, die ihr mit eurem eintönigen Ruf den lichten Tag anödet!
Nein, wohin wir – im höchsten wie im gewöhnlichen Sinne – gehören, was Heimat ist, das wissen wir besser, und um so mehr. als unser Horizont keineswegs im Umkreis unseres Restes beschlossen liegt. Wir sind weit gewandert, haben viel von der Welt gesehen, fremde Völker und Meere genug. Wir verwechseln nicht den Hahn unsers Kirchturms mit der Freiheitsstatue im Hafen von New York oder anderen Sichtpunkten des Weltverkehrs. Aber wenn ich die Blätter dieser Mappe eins nach dem andern vor mich hinlege – mein Blick wandert vom Tisch zum Fenster hinaus auf die Hügel, die sich in die Rheinebene senken, und wieder zurück zu der Linie der Vogesen auf der Radierung, die draußen der Dunst verhüllt – so genieße ich die gleiche Freude, wie wenn ich die Bewegung von Gemüt und Sinne, die jede Kunst erzeugt, in den Augen eines geliebten Wesens wiederfinde. So persönlich sind für uns die Züge dieser Landschaft. So angefüllt mit Erinnerungen, Versprechungen, Bekenntnissen. Da ist das Blatt mit den vielen Hügeln (auf einem davon sitzt natürlich eine Ruine): wirklich wie von spielenden Händen zusammengeschoben, und auch die beiden Sperber im unendlichen Himmel haben nicht mehr Gewicht, als die Phantasie eines Kindes. Vorn eine zerraufte Tanne; sie steht an der Nordecke eines Vorberges, wo das Moos sie auffrißt, der Wind sie zerreißt. Gleich aber folgt eine vergnügte Baumgruppe, aus dem Spielzeugkasten, und dann am Fuß des kleinen Buckels, ein etwas, nichtssagend, die Holzwolle des ausgeleerten Spielzeugkastens, paar dichte Nadelstriche, ein Schatten, paar Punkte – das ist Badenweiler. Die Art, wie Bizer Badenweiler in das Bild gehaucht hat, so daß es nur herausfindet, wer die Landschaft genau kennt, dem aber, der es entdeckt, das Herz höher schlägt, das klingt mir wie ein Gedicht von der verschwiegenen Liebe, es ist entzückend. Das andere Blatt zeigt einen dieser selben Hügel, die sich eben noch fröhlich aneinanderduckten, jetzt aber nah und groß gesehn, voller Bewegung, gewitterhaft aufglänzend unter dem Fetzen Himmel, der aus der Rheinebene herüberhängt. Das dritte einen Vorberg, hinter dem die Hügel bereits abgleiten zu den Weingärten hinunter, mit dem Blick, wie unter einem sich aufrollenden Vorhang, in die Weite, wo die Umrisse der Vogesen sich mit denen der Wolken vermischen. Und da, die beiden alemannischen Dorfstraßen, das eine Mal ist es Herbst, das andre Mal Frühling, und es ist das eine Mal Herbst, das andre Mal Frühling im Raum, in der Bewegung, in jedem Strich. Endlich das Rheindorf, mir von den Blättern vielleicht das liebste! Man blickt über die Dächer auf den Rhein, die elsässische Ebene (mit der italienischen Pappel im Wappenschild), die Vogesen, die ein lichtes Wolkengebilde artig krönt, und alles strahlt in jugendlicher Anmut – in einem Singsang von Licht!
Hatte ich nicht recht zu sagen: laßt sie fahren, die Nachtwächter?