Gottfried Benn – Morgue und andere Gedichte

Lyrik, Lyrisches Flugblatt, 1912

Welche Eindrücke verarbeitet Gottfried Benn in seinen Gedichten? Was beschreibt der Dichter in „Kleine Aster“? Ist das Gedicht wirklich dem Expressionismus zuzuordnen? Warum lehnt Benn jegliches politisches Engagement ab?

Im Jahr 1912 betritt Gottfried Benn mit seinem expressionistischen Gedichtband die literarische Bühne und verarbeitet dabei Eindrücke, die er aus seiner Tätigkeit als Arzt beim Militär und in zwei Berliner Krankenhäusern machte. Der Gedichtband war ein Skandal, begründete aber seinen frühen Ruhm.

In Kleine Aster beschreibt Benn die Leichenöffnung eines „ersoffenen Bierfahrers“. Dieser wird auf den Obduktionstisch gestemmt. Zwischen seinen Zähnen wurde dem Toten eine „dunkelhellila Aster“ geklemmt. Unterkühlt und gleichgültig beschreibt der Sprecher die Öffnung der Leiche, das Herausschneiden von Zunge und Gaumen. Dabei rutscht die Blume in das „nebenliegende Gehirn“, wird dort vom Sprecher herausgeholt und zusammen mit Feuchtigkeit aufnehmender Holzwolle in die Brusthöhle gepackt. Die Obduktion ist beendet, der Leichnam wieder zugenäht. Der Sprecher wünscht der Pflanze, sie möge sich im Leichnam satt trinken und sanfte Ruhe finden.

Das Gedicht – überraschenderweise ohne Reimschema und festes Metrum (mit diesen Mitteln versuchten die Expressionisten häufig, den turbulenten Inhalt ihrer Lyrik zu bändigen) – greift vom Expressionismus bevorzugte negative Themen auf – Tod, Hoffnungslosigkeit, Verfall, Beschreibung des Hässlichen – und entindividualisiert den Menschen: Nie wird er in Kleine Aster als Ganzes betrachtet, lediglich in Teilen wie Gaumen, Zunge, Hirn. Mitgefühl bringt der Sprecher nicht dem Toten, sondern der Pflanze gegenüber zum Ausdruck.

Eine kühle Distanz, die sich auch in Benns Leben findet, beispielsweise in seiner Einstellung zum 1. Weltkrieg: Benn fühlt keine Kriegsbegeisterung, ist aber auch kein Kriegsgegner. Er fühlt sich später vom aufkommenden Faschismus angezogen, lehnt aber jedes politische Engagement als eines Dichters unwürdig ab.

So sei all jenen, die sich näher mit dem Leben Gottfried Benns auseinandersetzen möchten (unter anderem mehr zu seiner Liebesbeziehung zur Dichterin Else Lakser-Schüler erfahren möchten), die im Rowohlt Verlag erschienene Monographie empfohlen (ISBN 978-3499506819, 8,50 Euro).

Auch während der 1920er-Jahre entstehen eine Vielzahl neuer Gedichte, die aber nicht mehr dieses radikale Vokabular der Morgue-Gedichte aufweisen. Bei Klett-Cotta – dort liegen die Rechte am Werk Gottfried Benns – sind seine Sämtliche Gedichte erhältlich (ISBN 978-3608934496, 19,90 Euro), nur 4 Euro zahlt man für eine Auswahl seiner Gedichte in Reclams Universal-Bibliothek (ISBN 978-3150084809).

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