Agnes Smedley – Verachte das Geld und fürchte nicht den Tod

Erzählung, abgedruckt in „Die Weltbühne“, Ausgabe vom 7. März 1933

Drei ärmlich gekleidete Chinesen sprachen mitei­nander in einem Eisenbahnabteil dritter Klasse. Einer von ihnen war blind und hatte eine zerfetzte Uniform an. Aus ihrem Gespräch war zu entnehmen, daß es sich um drei Soldaten, davon zwei Deserteure, handelte.

Einer von ihnen hielt in seiner Erzählung plötzlich inne und lachte, doch seine Gefährten lächelten noch nicht einmal zur Antwort. Der Erzählende war ein Mann Hsuchau, wie er berichtete, er hatte jedoch den größten Teil seines Lebens in Tientsin verbracht. Er stammte von armen Bauern ab, und da während einer Hungersnot seine Mutter und drei Brüder gestorben waren, hatte ihn sein Vater als das einzige überleben­de Kind nach Tientsin gebracht. Von früher Kindheit an hatte er gearbeitet. Sobald er stark genug war, wurde er Wasserträger. Als solcher hatte er dreißig Familien am Tage zu versorgen. Die Arbeit war schwer und brachte grade genug ein, um das nack­te Leben in seinem Körper und in dem seines alten Vaters zu erhalten.

So hatte er bis vor kurzem gelebt. Einer seiner Kunden war ein reicher Mann mit feinen, seidenen Gewändern und einer Brille auf der Nase. Der hat­te einen eignen Rikschakuli, der so schnell wie ein Pferd laufen konnte: wenn der mit seinem Herrn die Straße herunterkam, mußten alle andern Kulis den Weg freigeben. Dieser reiche Mann kaufte sich eines Tages aus einem Tingeltangel ein Mädchen, namens Schiao Tscheng. „Ich selbst bin ein dummer Kerl, denn ich habe mein ganzes Leben lang Wasser getragen und noch niemals soviel Geld verdient, um ein Mädchen zu kaufen. Dieser reiche Mann aber kauft sich jedes Mal eines, wenn er eines will. Lange Zeit konnte ich mir gar nicht vorstellen, woher man so viel Geld bekommen könne. Jetzt aber habe ich es erfahren. Der Mann war ein Rekrutierungsagent für den General Liu Tschen-nien. Ich werde euch erzäh­len, wie ich es erfahren habe. Hört zu.

Eines Tages fragte mich diese reiche Schildkröte in ihren feinen Seidengewändern, ob ich zwölf Dollar im Monat verdienen wolle. Er brauche Arbeiter, um eine Eisenbahn zu bauen. Ich erwiderte, ich wür­de solch gute Arbeit gern annehmen und mich am nächsten Tage im Hafen einfinden, von wo er mit dem Schiff abfahren wolle. Ich ließ meinen Wasser­karren stehen und lief zu meinem alten Vater nach Hause. Der war jetzt sechsundneunzig Jahre alt und so froh, die guten Nachrichten zu hören, daß er zu weinen begann. Denn jetzt werde er sich in seinem Alter nicht mehr zu sorgen haben. Narr, der ich war! Die Nachbarn kamen und gratulierten mir, und ich war so glücklich, daß ich nicht einmal lachen konnte.

Sofort lief ich zum Quai, weil ich Angst hatte, es würden zu viele da sein und ich könnte daher die Ar­beit nicht bekommen. Vier Mann standen schon da. Und wir schliefen zu fünft dort auf den Steinen und warteten auf den Morgen. Als es hell wurde, kamen immer mehr Männer, bis wir insgesamt achtundsech­zig waren. Den ganzen Tag über warteten wir auf den reichen Mann, der kam aber erst am Abend in seiner Rikscha. Auf dem Schiff schlief er in einer Kabine, wir aber auf dem offenen Deck. Wir dachten, das sei sehr gut, denn er gab uns ja die Arbeit. Am nächsten Morgen landeten wir und marschierten sofort an die Stadtgrenze, wo wir glaubten, daß die Arbeit gleich losgehen werde. Doch als wir den Fuß eines kleinen Hügels erreichten, erblickten wir herumlungernde Soldaten und als wir in ihre Nähe kamen, salutierten sie unserm reichen Mann.

Wieviel neue Rekruten? fragte ein Offizier.

Zuerst begriff ich nicht, dann zitterte ich vor Furcht. Wir schrien alle, wir seien keine Soldaten sondern Arbeiter für die neue Eisenbahn. Aber die Schild­kröte in ihren Seidengewändern sagte: ,Ihr seid jetzt Soldaten. Wenn ihr nicht eure dreckigen Schnauzen haltet, kriegt ihr einen Tritt in den Bauch.´

Einige von uns weinten und baten auf den Knien. Doch einer der Offiziere begann uns zu treten, und so hörten wir auf. Dann banden uns die Soldaten die Arme mit Stricken zusammen, und so wurden wir nach den Baracken gebracht. Dort gab man uns Mützen, Uniformen und Sandalen, und es wurde uns mitgeteilt, wir würden sie bezahlen müssen, wenn wir unsre erste Löhnung bekämen. Ich fragte, wie viel wir im Monat erhalten würden. Sie erwiderten:  ,Acht Dollar, vielleicht. Vielleicht!` 

,Vielleicht!´ lachten die andern beiden wütend.

Dann fragte ich, wieviel die Kleidung koste. Der Hauptmann schrieb etwas in ein Buch und erwiderte: ,Ungefähr vier Dollar achtzig.`Daraufhin sagte ein andrer Soldat, das sei nicht alles, denn ich müsse aus meiner Löhnung noch jeden Monat mein Essen be­zahlen, und das mache noch einmal fünf Dollar aus. Auf meine Bemerkung, ich würde dann ja gleich mit Schulden anfangen, erwiderte der Hauptmann: ,Nächsten Monat brauchst du keine neue Uniform. Dann ist ja alles in Ordnung.´

Dann wurden wir zum Übungsplatz geführt, und einer der Offiziere trat an mich heran und fragte: ,Weißt du nicht, wie du deinen Vorgesetzten zu grü­ßen hast?´ Ich antwortete: ,Nein, zeig es mir und ich werde tun, was du mir zeigst.´ Er erhob eine Hand und ich machte es ihm nach. Doch sofort schlug er mich und brüllte: ,Nicht mit der linken, du Schildkrö­te!´

Der Drill begann jeden Morgen, während die Sterne noch hoch am Himmel standen und endete erst, wenn sie in der Nacht wieder erschienen. Morgens wurden wir oft in ein großes Zimmer geführt, wo jemand zu uns sprach. Das erste, was uns dort beigebracht wurde, war das Sprichwort: ,Verachte das Geld und fürchte nicht den Tod.‘ Die drei lachten. Einer von ihnen sagte: „Ja, so fangen sie immer an und so enden sie auch immer. Damit glauben sie unsre Bäuche und die unsrer Fa­milien füllen zu können.“

„Nachts, wenn wir müde wie Hunde waren“, fuhr der erste fort, „mußten wir uns einen andern Vortrag anhören. Ein Offizier sprach zu uns, und es schien, als wolle er nie wieder aufhören. Er erzählte immer das gleiche und forderte uns auf, für unser Land zu kämpfen. Der Kerl war ein Glattkopf, und ich wußte sofort, daß ich niemals die zwölf Dollar im Monat bekommen würde. Und daß mein alter Vater verhun­gern müsse. Vielleicht hat die reiche Schildkröte die zwölf Dollar bekommen und hat so sein Geld ge­macht. Das glaube ich jetzt.

Im Lager mußte ich mein Gesicht und sogar meine Ohren zweimal am Tage waschen und meistens auch den Hals. Wenn ich mir das Gesicht mit dem Ärmel abwischte, bekam ich von den Offizieren Prügel. 

Als ich einmal mit einem der Köche sprach, fragte ich ihn: ,Warum laufen wir hier eigentlich nicht weg? Wenn ich hier bleibe, wird mein alter Vater Hungers sterben, denn die zwölf Dollar werde ich nie zu sehen bekommen. Sie haben uns betrogen, wir müssen jetzt sogar unsre Kleidung bezahlen und die Nudeln, die wir uns in den Bauch schieben.` Der Koch erwider­te: ,Laufe nur, so weit du willst, ich mache nicht mit. Denn ich laufe nur dem Hunger entgegen. Meine Familie ist zu arm, um auch nur sich das Leben im eignen Körper zu erhalten. Lauf nur fort, ich werde nichts sagen. Wenn sie dich aber fassen, werden sie dich prügeln oder erschießen. Vergiß das nicht.´

Eines Nachts stand ich auf und sagte zu der Wache, die mich sah, ich müsse hinausgehen. Der brummte: ,Geh hinaus und leer dich aus. Sprich nicht so viel davon.` So ging ich hinaus. Ich blieb aber nicht an der Pißmauer stehen, die aus Stein war, mit einem großen Drachen darauf. Denn sie war früher ein Teil eines Mandarinenpalastes. Jeden Tag habe ich das Auge des Drachen angepißt – und es auch getroffen. Jetzt aber ging ich daran vorbei, kroch durch den Stacheldraht und lief über die Bohnenfelder. Einmal hörte ich ein Geräusch, da warf ich mich auf die Erde und lag still. Doch dann mußte ich husten, wie das immer geschieht, wenn man es nicht will. Ihr wißt, die Soldaten stopfenn den Husten mit Sand zu. So kratzte ich daher die Erde auf, um etwas Sand zu finden und schluckte den Dreck. Doch in ihm befand sich Gras, und das kitzelte meinen Hals so, daß mein Husten laut genug wurde, um ganz Schantung wach zu machen. So hörte mich jemand in dem Bohnen­feld und kam vorsichtig und ängstlich heran. ,Was machst du hier?` schrie er. Da er kein Soldat sondern offenbar ein Bauer war, stand ich auf und sagte ihm die Wahrheit. Er hörte mir zu und führte mich in seine Hütte. Dort gab er mir Tee, und ich erzählte ihm von den zwölf Dollar und von meinem alten Vater. Dann schenkte er mir ein paar alte Hosen und seinen Rock, ich gab ihm meine Uniform. ,Geh durch die Bohnen- und Weizenfelder. Kein Mann läuft auf offener Straße. Alle Männer unter vierzig werden zum Heeresdienst gezwungen, jetzt nehmen sie sogar schon Kaufleute, die nicht reich sind.` Sodann ging ich über die Bohnen- und Weizenfelder.“

Der Erzählende schwieg. Bevor er fortfahren konnte, begann ein andrer: „So ein Leben wie in den letzten Jahren als Soldat habe ich noch nie gekannt. Nicht einen einzigen Tag Ruhe. Marschieren und Kämpfen und keine Löhnung. Und dann sagte man uns, ver­achtet das Geld und fürchtet nicht den Tod. Als wir unsre Winteruniform ablegten, bekamen wir eine für den Sommer. Dafür wurden uns vier Dollar aufge­schrieben. Die Sandalen, die der Hauptmann uns mit fünfzig Cent anrechnete, hätten wir in den Geschäf­ten für dreißig kaufen können. Was er sonst noch gestohlen hat, weiß ich nicht. Oft, wenn ich krank lag, kam der Offizier und brüllte mich an: ,Du bist ja gar nicht krank, auf mit dir!´ Wollte ich einmal einen Tag oder zwei ausruhen, mußte ich mir die Beine mit Öl einreiben, bis die so angeschwollen waren, daß ich liegen bleiben mußte. Schließlich bin ich über eine Mauer geklettert und davongelaufen. Jetzt fahre ich nach Tientsin und suche mir Arbeit.“

„Laß dich aber nicht für den Bau einer Eisenbahn ködern“, warnte der erste.

Der Blinde unterbrach, da auch er seine Erlebnisse erzählen wollte. Auch ihm habe man zwölf Dollar im Monat bei dem Bau einer Eisenbahn versprochen. Er hatte viele Gefechte mitgemacht und bei einem seine beiden Augen verloren. Dann konnte man ihn als Soldaten nicht mehr brauchen, er erhielt zwei Dollar und sollte nach Hause gehen. Dazu aber reichte das Geld nicht, und da er hungrig war, begann er in den Straßen zu betteln. „General Liu“, sagte er, „wollte sein Gesicht wahren und wünschte daher nicht, daß Soldaten auf den Straßen bettelten. Deshalb befahl er, daß bettelnde Soldaten aus der Stadt vertrieben werden sollten. Das Heer solle nicht entehrt werden, sagte er. Ich trug an einem Finger einen goldenen Ring, den ich beim Plündern einer Stadt erbeutet hat­te. Den versetzte ich und bekam dafür dreißig Dollar. Doch jemand auf der Straße stahl mir das Geld und lief damit weg. Ich brüllte, so laut, daß ein Polizist gelaufen kam und den Dieb fing. Der wurde verprü­gelt und dann wieder freigelassen. Einer der Polizis­ten sagte zu mir: ,Das ist viel Geld für einen Blinden. Du wirst es wieder verlieren. Ich werde es für dich aufbewahren.`

Ich sagte ihm, ich wolle am nächsten Tag mit dem Schiff fort. Er erwiderte, er werde es mir dort hin­bringen. Ich bettelte, doch er gab mir nicht mehr als einzigen Dollar. Am nächsten Tag wartete ich den ganzen Tag am Hafen, aber er kam nicht. Dann schlief ich dort und am nächsten Morgen erschien er. Doch er wollte mir nur fünfzehn Dollar geben. ,Behalte fünf Dollar`, sagte ich ihm, ,denn du hast Augen und ich nicht.` , Solche Ungerechtigkeit habe ich noch nie bei einem Mensch gesehen`, erwider­te er, ,und ich bin jetzt schon fast vierzig Jahre alt. Hätte ich den Dieb nicht gefangen, hättest du nicht einen Heller, und woher weiß ich, wo du den Ring her hast. Auch hast du auf den Straßen in Uniform gebettelt, und das ist gegen das Gesetz. Ich aber habe dich nicht verhaftet.`So nahm ich also die fünfzehn Dollar und ging weg.“

Der Mann, der zuerst gesprochen hatte, sagte iro­nisch: „ Hat dir der Polizist auch geraten, das Geld zu verachten und den Tod nicht zu fürchten?“

Die drei lachten, doch es war kein heiteres Lachen.

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